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Unfallflucht Wenn aus einem Unfall ein Verbrechen wird

Unfallflucht: Nur wenige Sekunden entscheiden zwischen Unfall und Straftat
Unfallflucht: Die Gerichtsakte zeigt Tatort und Opfer Paul B. Er trägt heute eine Metallplatte im Schädel – und hat noch immer Schmerzen.
© Martin Wagenhan
Es sind Sekunden, in denen ein Fahrer entscheidet, ob aus einem Unfall eine Straftat wird. Immer öfter siegt die Feigheit über den Anstand. Unfallflucht wird zum Massendelikt.
Von Ingrid Eißele

Karl M. ist 77, aber er hört noch immer gut. Vergangenes Jahr im Mai riss ihn gegen halb drei nachts ein dumpfer Schlag aus dem Bett. Sein Schlafzimmer liegt zur Straße hin, in der Ortsmitte der badischen Gemeinde Forst. M. stand auf und zog den Rollladen hoch. Er weiß es noch genau: Nach dem Schlag hat "einen Moment lang" Stille geherrscht. Als er aus dem Fenster sah, erkannte er ein weißes Auto, das mit einem scheppernden Geräusch weiterfuhr. "Batsch, batsch, batsch", so erinnert sich M. als Zeuge vor Gericht.

"Ich sagte zu meiner Frau: Der fährt auf den Felgen!"

Kurze Zeit später entdeckte ein Autofahrer am Straßenrand einen Mann. Paul B., 18, ein Azubi aus Forst, der zu Fuß einen Freund besucht hatte und wegen einer Sportverletzung an Krücken ging, lag bewusstlos neben dem Bordstein. Er blutete am Kopf, seine Gehhilfen lagen auf der Straße. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, einen Riss in der Schädelbasis, eine Hirnquetschung, eine Lähmung des Gesichtsnervs – lebensgefährliche Verletzungen, so die Rechtsmedizinerin Gisela Zimmer. Paul B. habe "extrem viel Glück" gehabt, dass er schnell gefunden wurde.

Opfer Paul B. trägt heute eine Metallplatte im Schädel, die OP-Narbe ist noch deutlich sichtbar.
Opfer Paul B. trägt heute eine Metallplatte im Schädel, die OP-Narbe ist noch deutlich sichtbar.
© Martin Wagenhan

Der Unfallfahrer mit der scheppernden Felge war längst verschwunden, aber die Polizei richtete eine Ermittlungsgruppe mit zehn Beamten ein. "In so schweren Fällen setzen wir alles daran, den Verursacher zu finden", sagt der Karlsruher Polizeisprecher Fritz Bachholz.

Nicht zuletzt, weil Unfallflucht immer mehr zum Massendelikt wird. Das Statistische Bundesamt erfasst die Gesamtzahl der Fälle nicht, aber die Daten aus vielen Bundesländern sind deutlich: In Nordrhein-Westfalen nahm die Zahl der Unfallflüchtigen von 2006 bis 2016 um knapp 25 000 zu, ein Anstieg von 23 Prozent. In Berlin waren es im selben Zeitraum 28 Prozent oder 7000 mehr. Hamburg meldet ein Plus von mehr als acht Prozent über fünf Jahre, Niedersachsen 14 Prozent. Das norddeutsche Land kommt für 2016 sogar auf einen Spitzenwert von mehr als 48 000 Fällen und will jetzt mit Postkarten, Anzeigen und Plakaten für mehr Verantwortung werben. Motto: "Rummss!!! – bleiben Sie fair, wählen Sie 110".

Polizeieinsatz in Estland

In Karlsruhe hatten sie voriges Jahr 8000 Fälle von Unfallflucht

Meist geht es um Kratzer, Dellen oder lädierte Außenspiegel. In solchen Bagatellfällen macht sich inzwischen fast jeder vierte Fahrer dünne. "Der eine hat Angst um seinen Versicherungsrabatt, der andere hat keine Fahrerlaubnis, oder er hat etwas getrunken", sagt Bachholz. In Karlsruhe hatten sie voriges Jahr 8000 Fälle von Fahrerflucht. Plus Dunkelziffer. Denn viele Autobesitzer gehen wegen einer Schramme im Lack erst gar nicht zur Polizei – auch wenn sie auf den Kosten sitzen bleiben.

Aber es gibt eben auch die drastischeren Fälle, in denen einer einen Menschen anfährt oder gar überfährt und ihn einfach liegen lässt. Ihre Zahl ist seit Jahren hoch, mehr als 25 000 waren es im letzten ausgewerteten Jahr 2015 bundesweit, 79 der Unfallopfer starben. Wenn es der Polizei gelingt, die Täter zu ermitteln – etwa jede zweite Tat wird aufgeklärt –, drohen ihnen hohe Strafen. Je nach den Umständen sind selbst Anklagen wegen versuchten oder begangenen Mordes möglich. Aber dafür brauchen die Beamten neben ihrer Expertise oft ein bisschen Glück – und Hilfe von Bürgern. So auch im Fall von Paul B.

Die Ermittler fanden Kratzer auf dem Gehweg in Forst, wohl von Felgen, und schwarzen Abrieb von Reifen, außerdem auf der Hose des Opfers einen winzigen Lacksplitter, den Spezialisten des Landeskriminalamts im Labor untersuchten. "Zu 70 Prozent von einem Mercedes", so ihre Einschätzung. Aus den Spuren, den Zeugenaussagen und den Verletzungen des Opfers entstand ein Bild des Unfallfahrzeugs: Die Polizei suchte nach einem weißen Mercedes "mit einem platten Reifen und möglicherweise einer schadhaften Felge", Motorhaube und Frontscheibe könnten ebenfalls beschädigt sein.

Der Täter im Karlsruher Landgericht.
Der Täter im Karlsruher Landgericht.
© Martin Wagenhan

Auch Stefan F. las davon. Er wohnt in Ubstadt-Weiher, fünf Kilometer vom Unfallort entfernt. Und er hatte sich schon über den weißen BMW gewundert, einen SUV, der zwei Tage vor seinem Haus stand, sehr dicht an die Hauswand geparkt, sodass man die Front kaum sehen konnte. Der rechte Vorderreifen war zerfetzt, die Motorhaube hatte eine tiefe Delle. Auch einem Rentner, der in der Nähe einen Anhänger kaufen wollte, fiel der weiße Geländewagen mit der kaputten Windschutzscheibe auf. "War das ein größeres Wild?", überlegte er. Da musste jedenfalls etwas passiert sein.

Das Auto fuhr ein Nachbar, Sven Bauer *, 33. Der bat einen Freund um Hilfe beim Reifenwechsel, er habe einen Wildunfall gehabt, das Steuer verrissen, und nun sei der Reifen kaputt. Der Freund kam am späten Abend vorbei. Auch er las ein paar Tage später im Internet die Meldung der Polizei. Den Link schickte er an Sven Bauer mit dem Kommentar: "Alter, ich hoffe, das warst nicht du." Bauer schrieb zurück: "Krasse Sache, aber das geht nicht auf meine Kappe." – "Da bin ich aber froh", antwortete der Freund. Vielleicht wäre es das gewesen. Zwei, drei Menschen, die stutzig werden, die sich Gedanken machen. Aber zehn Tage nach dem Unfall bekam die Polizei ein anonymes Schreiben, von einem weißen BMW und einem "jüngeren Mann" war da die Rede. Ein weiterer Tipp wies konkret auf einen Mann namens Bauer hin. Die Beamten überprüften nun die Autohalterin, Gerlinde Bauer, die Mutter von Sven Bauer. Sie suchten das Fahrzeug, aber es war verschwunden. Es tauchte kurz darauf auf, unbeschädigt. Die Beamten, auf der Suche nach ausgetauschten Teilen, fanden heraus, dass eine Werkstatt in der Nähe ein Auto repariert hatte, auf das die Beschreibung passte. Es war ein BMW, der mit einer Mercedes-Farbe neu lackiert worden war, das erklärte den Lacksplitter. Die gebrauchten Ersatzteile – Reifen, Felge, Motorhaube, Windschutzscheibe – hatte ein Paar aus Forst bei verschiedenen Händlern und im Internet zusammen gekauft. Es waren die Eheleute Bauer, die Eltern von Sven.

Am Wochenende trinke er "viel", gestand er

Zwei Wochen nach dem Unfall gab der Sohn zu, dass er der Fahrer war. Dass er einen Menschen angefahren habe, bestritt er jedoch. Er habe geglaubt, gegen einen Poller gerumst zu sein, betrunken, wie er war.

Das wiederholte Sven Bauer Anfang Mai auch vor dem Karlsruher Landgericht. Es ging um viel: um die Entscheidung zwischen Bewährungsstrafe und Gefängnis.

Sven Bauer, 33, dunkle Locken, weiche Gesichtszüge, schien neben seinem Verteidiger zu verschwinden. Im Zuschauerraum des Schwurgerichts saßen seine Eltern, blass und versteinert. In seinem erlernten Beruf war der Grafikdesigner eher glücklos geblieben, deshalb stellte ihn die Mutter in ihrer Einzelhandelsfirma an. Einmal schon hatte er einen Monat Fahrverbot wegen Marihuanakonsums. Am Wochenende trinke er "viel" , gestand er. Erst recht, seit sich seine Freundin von ihm getrennt habe. Am Unfalltag hatte er mit seinen Eltern die Hochzeit seiner Cousine in Forst besucht, im Laufe des Abends schüttete er Sekt, Wein, Bier, Cocktails und mindestens zehn Schnäpse in sich hinein. Andere Gäste berichteten dem Gericht von Bauers "glasigen Augen" und seiner verwaschenen Aussprache. Seine Mutter drängte ihn, das Auto stehen zu lassen und nicht mehr zur fünf Kilometer entfernten Wohnung zu fahren, schließlich wohnten die Eltern in Forst.

Doch kurz vor halb drei setzte Bauer sich ins Auto seiner Mutter, Minuten später knallte er gegen den Bordstein, den Schlag habe er gespürt, so der Angeklagte. "Doch es wäre mir im Traum nicht eingefallen, dass ich gegen einen Menschen gefahren bin." Ob er angehalten habe? "Weiß ich nimmer." Schockiert, mit Herzrasen sei er geflüchtet. Schließlich habe er schon einmal ein Fahrverbot kassiert. Erst als er am nächsten Tag mit einem Riesenkater erwachte und die Windschutzscheibe und den zerrissenen Reifen sah, habe er realisiert: "Es muss was gegen die Scheibe geflogen sein."

Das "Etwas", Paul B., musste operiert werden und verbrachte zwei Monate in Kliniken. Der Lehrling trägt nun eine Metallplatte im Schädeldach, er leidet unter Kopfschmerzen, Taubheitsgefühlen und hat Erinnerungslücken. "Die zwölf Tage danach sind völlig weg", sagt er. Paul B., inzwischen 19, will dennoch nicht als Opfer erscheinen. Er fühle sich wieder gut. Inzwischen kann er seine Ausbildung als Konstruktionsmechaniker fortsetzen.

Ein Sachverständiger der Dekra rekonstruierte im Auftrag des Gerichts den Hergang des Unfalls. Paul B. sei mit einer Geschwindigkeit von etwa 40 Kilometern pro Stunde auf dem Gehweg erfasst und auf die Motorhaube geschleudert worden, von dort sei er fast 14 Meter weit geflogen. Vom Aufprall auf den Bordstein über das Aufladen bis zu einer Wahrnehmung des Autofahrers vergingen nach Schätzungen des Gutachters etwa zwei Sekunden.

Der Augenblick, in dem aus einem Unfall ein Verbrechen wird

Selbst für einen nüchternen Fahrer sei dies wenig Zeit, um zu erkennen, "was ich da erfasst habe", sagte die rechtsmedizinische Gutachterin Gisela Zimmer. Und Sven Bauer hatte nach ihren Schätzungen etwa 2,8 Promille Alkohol im Blut. Doch nach dem Schreckmoment sei auch ein betrunkener Fahrer durch den Adrenalineinschuss hellwach. Das Denken sei langsamer, aber Einsichtsfähigkeit und Skrupel seien in der Regel immer noch da, "so etwas ist ganz tief im Menschen angelegt". Auch ein Alkoholfahrer könne somit nach dem ersten Schrecken realisieren: Das könnte auch ein Mensch gewesen sein.

Letztlich war es ein winziges Detail, das den Ausschlag gab. Das dem Gericht zu der Einschätzung verhalf, Sven Bauer habe gewusst, dass da mehr gewesen sein könnte als ein Poller. Es war der Moment, den Rentner Karl M. beschrieben hatte, die Stille, bevor das Auto mit rumpelndem Geräusch wieder losfuhr. Der Augenblick, in dem aus einem Unfall ein Verbrechen wurde.

Unfallflucht: Wenn aus einem Unfall ein Verbrechen wird

"Ich will nicht sagen, dass er ausgestiegen ist und nachgeschaut hat", so der Vorsitzende Richter Leonhard Schmidt. Aber er habe nach dem harten Aufprall "mit Sicherheit damit gerechnet, dass er einen Menschen angefahren hat – was denn sonst?"

Das Gericht verurteilte Sven Bauer vorige Woche wegen "versuchtem Verdeckungsmord durch Unterlassen" zu dreieinhalb Jahren Haft.

Die Familie des Opfers, die ein Jahr des Bangens und der Ungewissheit hinter sich hat, hatte sich für eine harte Strafe ausgesprochen. Paul B. hielt sich zurück. Irgendwann, in einer Prozesspause, hatte er über Bauer gesagt: "Ich habe mit ihm mehr Mitleid als mit jedem anderen Menschen."

* Name von der Redaktion geändert

Diese Reportage ist dem aktuellen stern entnommen:

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