Nach 20 Jahren unter Präsident Erdogan steht das Land am Scheideweg. Während Amtsinhaber Erdogan an seinem autoritären Führungsstil festhalten dürfte, hat sein Herausforderer Kilicdaroglu einen demokratischen Neuanfang angekündigt.
Video Schicksalswahl in der Türkei

STORY: Diesmal könnte es eng werden für Recep Tayyip Erdogan. Seit 20 Jahren ist der türkische Präsident an der Macht. Kurz vor der Wahl am Sonntag sind die Chancen auf einen Wechsel aber offenbar gestiegen. In einer am Donnerstag veröffentlichten Umfrage lag Erdogan deutlich hinter seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, mit 43,7 zu 49,3 Prozent. Zudem gab der Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince überraschend seine Bewerbung auf. Sein Anteil hatte in der Umfrage noch bei 2,2 Prozent gelegen. Meinungsforscher schätzen, dass Kilicdaroglu von dieser Wendung profitieren wird. Die Abstimmung über eine neue Präsidentschaft und ein neues Parlament gelten als Schicksalswahl in der Türkei. Während Erdogan im Falle eines Sieges wohl an seinem autoritären Führungsstil festhalten dürfte, hat Kilicdaroglu einen demokratischen Neuanfang angekündigt. Der Chef der Partei CHP tritt als Spitzenkandidat für ein Oppositionsbündnis aus sechs Parteien an. Der türkischen Bevölkerung verspricht "Gandhi Kemal", wie er von Anhängern auch genannt wird, eine Rückkehr zum parlamentarischen Regierungssystem, eine unabhängige Justiz, engere Beziehungen zum Westen, aber vor allem eine neue Wirtschaftspolitik und die Bekämpfung der Inflation, die 2022 in der Türkei bei 85 Prozent lag. Auch wenn die Teuerungsrate inzwischen wieder nachgegeben hat, trauen manche Erdogan keine Wendung zum Besseren mehr zu. "Ich würde sagen, die Verantwortlichen sind diejenigen, die uns regieren", sagt dieser Friseur in Istanbul. "Sie treffen alle Entscheidungen, die die Wirtschaft und das Land betreffen. Ich war früher ein AKP-Anhänger, aber ich denke nicht mehr daran, für sie zu stimmen." Von den Wahlversprechen des Wirtschaftswissenschaftlers Kilicdaroglu zeigt sich der Barbier bislang aber auch nicht überzeugt. Viel mehr Auswahl wird er allerdings nicht haben. Neben Erdogan und Kilicdaroglu gibt es mit Sinan Ogan nur noch einen dritten Bewerber um das Präsidentenamt. In Umfragen lag er zuletzt bei knapp fünf Prozent. Wenn am Sonntag kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht, ist eine Stichwahl am 28. Mai vorgesehen. Eine besondere Herausforderung dürfte der Urnengang in der Erdbebenregion im Südosten der Türkei werden - und das nicht nur, weil viele Gebäude, die als Wahllokale genutzt wurden, seit dem Beben am 6. Februar zerstört sind. Viele Menschen leiden noch immer unter den Folgen der Katastrophe, bei der Zehntausende ums Leben kamen. Viele kritisierten eine zu langsame Reaktion der Behörden. Die Opposition unter Kilicdaroglu gewann hingegen an Zustimmung.