China "Anfangs hörte ich meinen Vater noch"

Von Ellen Deng und Adrian Geiges, Beichuan
Erst bebte die Erde, dann kam das Wasser und die Behörden warnten vor Dammbrüchen. Die Bewohner Beichuans in der Provinz Sichuan mussten fliehen, ihre vermissten Verwandten in den Trümmern zurücklassen. Jetzt sind sie zurück - und suchen nach Überlebenden.

"Ich habe Angst, aber ich muss doch meine Schwester und ihre Tochter suchen", sagt der 30-jährige Arbeitslose Han Wengang. "Ein Verwandter hat mich angerufen, und gesagt, man könne es wieder riskieren." Tatsächlich hat die Regierung für Beichuan eine vorläufige Entwarnung gegeben. Der befürchtete Regen ist ausgeblieben. Auch habe man von Erdrutschen angestaute Flüsse überlaufen lassen und das Wasser umgeleitet.

An Han Wengangs Arm und Fuß bluten frische Schnittwunden, er hat sich verletzt, als er in den Trümmern nach seiner Schwester suchte. In ihrem Haus am Berg sind Dach und Decken eingestürzt, unter den Trümmern lugen Kinderbücher und Bottiche hervor. Intakt sind nur noch Teile der Fassade und der Balkon, dort hängen Kinderkleidchen und T-Shirts - Zeugen eines vergangenen Lebens. Seinen Personalausweis hat der Arbeitslose gerade gefunden, aber von der Schwester - keine Spur.

Zuletzt wurde sie gesehen auf dem Beifahrersitz des Taxis ihres Ehemanns, der selbst war gerade in der Nachbarschaft unterwegs - im Freien, und hat so überlebt. Doch das Taxi, ein grünes Auto der chinesischen Marke Xiali, ist nur noch ein flaches Stück Blech, zusammengedrückt von einem Stein fast so groß wie ein Auto, der vom Berg gerollt ist. Doch Spuren eines menschlichen Körpers wurden darin nicht gefunden. "Sie muss weggerannt sein, aber wohin?", fragt ihr Bruder verzweifelt.

Gar keine Hoffnung mehr hat er für die neunjährige Tochter seiner Schwester. Sie saß im Klassenzimmer, als um 14.28 Uhr vergangen Montag die Erde bebte. Während von vielen anderen Gebäuden in Beichuan noch immer Fassaden stehen, sind die Schulen, einst mehrstöckige Gebäude, nur noch flache Trümmerfelder. Vor einer liegen 50 Leichen aufgebahrt, Erwachsene und Kinder, die meisten in Säcke verpackt. Die Toten, die unverhüllt am Boden liegen, sind aufgrund ihrer zerquetschten Gesichter kaum noch zu erkennen, blau angelaufen, die Hände starr ausgestreckt.

"Wie konnten sie die Schulen so bauen, dass sie beim ersten Stoß in sich zusammenfallen", jammern verzweifelte Angehörige. Ein Baggerfahrer gräbt die Trümmer vorsichtig um, Hilfskräfte werden sofort herbeigerufen, wenn er auf Köpfe, Arme oder Beine stößt. "Der Beton war so schlecht, dass er an einigen Stellen mit der Hand zerstört werden konnte", sagt der Fachmann. Seinen Namen möchte er nicht nennen, er befürchtet Nachteile. "Am ersten Tag arbeitete ich 36 Stunden am Stück. Jetzt hoffen wir nicht mehr darauf, Überlebende zu finden, wir bergen nur noch Leichen." Am ersten Tag hörte eine Mutter die Schreie ihrer Tochter unter den Mauerresten. Sie konnte gerettet werden, genauso wie 30 ihrer Mitschüler. Doch an dieser Schule gab es mehr als 1000 Schüler.

Solche Geschichten von Hoffnung und von Verzweiflung werden in der ganzen Stadt, in der einst 20.000 Menschen lebten, erzählt. Beherrscht wird das Bild von den Katastrophenhelfern. Es sieht gespenstisch aus, wenn Soldaten und Polizisten hinter roten Fahnen zwischen den Trümmern marschieren. Fast alle tragen weiße Schutzmasken über Mund und Nase. Es stinkt vom Verwesungsgeruch der Leichen.

"Am ersten Tag hat man aus unserem Firmengebäude noch Stimmen gehört, ich bin sicher, dass die von meinem Papa dabei war", sagt der 24-jährige Yu Qiang, der mit seinem Vater eine kleine Baufirma betrieb. Der Sohn war am Tag des Erdbebens beruflich unterwegs in einer anderen Stadt und hat deshalb überlebt. "Bis heute hat hier kein Bagger gegraben", sagt er. Da sie überall dringend gebraucht werden, reicht ihre Zahl nicht aus. Vorrang haben die Schulgebäude, dann kommen die Wohnhäuser dran, dann erst die Büros.

Deshalb setzt der Unternehmer Wang, der eine andere Baufirma mit 400 Beschäftigten leitete, seinen eigenen Bagger ein. Er kann noch nicht sagen, wie viele seiner Mitarbeiter überlebt haben. Er hofft nicht mehr darauf, so viele Tage nach dem Beben noch Überlebende zu finden. Er ruft Anweisungen, was aus den Trümmern noch gebraucht wird und was nicht: Handtücher auf keinen Fall, wichtig sind die Firmendokumente.

Völlig verwirrt streicht ein Dackel um Soldaten und Journalisten herum, sucht nach Fressbarem. Keiner füttert ihn, denn selbst den Menschen fehlt es an Wasser und Nahrungsmitteln.

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