Nach dem schweren Erdbeben in Mittelitalien haben die rund 5100 Rettungskräfte auch in der Nacht zu Dienstag unermüdlich nach Überlebenden gesucht. Regen und eisige Temperaturen erschwerten jedoch den Helfern in der am schwersten getroffenen Stadt L'Aquila und in den umliegenden Dörfern den Einsatz. Insgesamt konnten die Rettungskräfte bislang mehr als 100 Überlebende aus den Trümmern retten. Derzeit werden noch 34 Menschen vermisst. Tausende verbrachten die Nacht angesichts von Nachbeben in ihren Autos oder in Zeltlagern. Unterdessen werden etwa 200 Sicherheitskräfte in L'Aquila und Umgebung eingesetzt, um Plünderungen zu verhindern.
Die Rettungsmannschaften gruben teils mit bloßen Händen und Eimern in den Überresten eines Studenten-Wohnheimes in L'Aquila nach mehreren Vermissten. Auch Hunde und ein Kran kamen zum Einsatz. Um 2.02 Uhr, knapp 23 Stunden nach dem verheerenden Erdstoß, dann eine Erfolgsmeldung: Eine 24 Jahre alte Studentin konnte aus den Trümmern befreit werden, wie die italienische Nachrichtenagentur Ansa berichtete. Ihr ging es den Umständen entsprechend gut, hieß es. Auch an anderen Stellen waren die Retter erfolgreich: So konnten eine 21-jährige Frau und ein 22-jähriger Mann aus den Trümmern eines fünfstöckigen Wohnhauses gezogen werden.
Die Opferzahl erhöhte sich unterdessen auf 179. 40 der Opfer müssten noch identifiziert werden, teilte das Koordinierungszentrum der Rettungsmannschaften am Dienstag in L'Aquila mit. Etwa 1500 Menschen wurden verletzt. Die Zahl der Obdachlosen wurde korrigiert: Etwa 17.000 Menschen hätten ihr Dach über dem Kopf verloren, darunter praktisch jeder siebte Bürger von L'Aquila, erklärte das Koordinierungszentrum. Die Stadtverwaltung von L'Aquila hatte zuvor von 50.000 Obdachlosen gesprochen, die italienische Regierung hatte die Zahl auf 70.000 geschätzt. Offiziellen Angaben zufolge wurden bei dem Erdbeben am Montag 10.000 bis 15.000 Gebäude beschädigt oder zerstört.
Die Rettungsarbeiten wurden in der Nacht immer wieder unterbrochen, um mögliche Lebenszeichen aus zerstörten Gebäuden nicht zu überhören. Zudem erschütterten am frühen Dienstagmorgen mehrere Nachbeben das Katastrophengebiet 100 Kilometer nordöstlich von Rom. Wie die italienische Nachrichtenagentur Ansa berichtete, hatte eines die Stärke 4,8. Nach Angaben des Zivilschutzes war es nach dem Hauptbeben, das die Abruzzen in der Nacht zu Montag mit einer Stärke zwischen 5,8 und 6,3 erzittern ließ, eine der heftigsten Erschütterungen. Seit Montagmorgen wurden etwa 280 Nachbeben gezählt. Ob es neue Schäden gegeben hat, ist noch unklar.
Beileidsbekundungen aus aller Welt
Ministerpräsident Silvio Berlusconi rief den Notstand aus und sagte eine geplante Reise nach Moskau ab, um ins Katastrophengebiet zu fahren. Nach seinen Worten kamen mehr als 150 Menschen ums Leben. Betroffen sind 26 Ortschaften rund um L'Aquila. So wurde die Kleinstadt Onna praktisch dem Erdboden gleichgemacht, 39 der etwa 250 Einwohner kamen ums Leben. Aus allen Teilen Italiens trafen erste Hilfslieferungen ein. Berlusconi stellte 30 Millionen Euro als Soforthilfe in Aussicht. Zudem hofft Italien auf Aufbauhilfen in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro aus Brüssel.
Nachdem die nationale Hilfe aus allen Landesteilen am Vortag rasch angelaufen war, hat Innenminister Roberto Maroni am Dienstag 130 Millionen Euro für den Einsatz von Polizei und Feuerwehr in den Abruzzen in den nächsten sechs Monaten angekündigt. Mehr Mittel werde der nächste Ministerrat freigeben, sagte er: "Für diesen nationalen Notstand werden wir alle benötigten Gelder auftreiben." Mehr als 10.000 Betten seien für die Obdachlosen bereits an der Küste verfügbar.
Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt sendeten unterdessen Beileidsbekundungen nach Italien, darunter Kanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama. Nach Angaben des Vatikans betete Papst Benedikt XVI. für die Opfer und besonders die Kinder.
Das Hauptbeben hatte die Menschen am Montagmorgen um 3.32 Uhr aus dem Schlaf gerissen, Tausende waren panikartig ins Freie gerannt. Die Erschütterungen waren im rund 100 Kilometer südwestlich gelegenen Rom noch zu spüren. Dort wurden neue Risse in den Ruinen der Caracalla-Thermen aus dem dritten Jahrhundert registriert.
Dagegen wurden in der 70.000-Einwohner-Stadt L'Aquila viele Häuser zerstört. Laut Bürgermeister Cialente sind vor allem moderne Wohnblocks betroffen. Diese sind häufig nicht auf Erdbeben ausgerichtet. Auch der mittelalterliche Stadtkern blieb nicht verschont. Dem Kulturministerium zufolge stürzten die Außenwand einer Kirche aus dem 13. Jahrhundert sowie der Glockenturm einer Renaissance-Kirche ein. Auch die Kathedrale und das Schloss wurden beschädigt.
Das Beben war das schwerste in Italien seit fast 30 Jahren. Am 23. November 1980 wurden bei einem Erdstoß der Stärke 6,9 im Süden des Landes rund 3000 Menschen in den Tod gerissen. Zuletzt wurde Italien am 31. Oktober 2002 von einem heftigen Beben heimgesucht. Bei dem Erdstoß der Stärke 5,4 wurden 28 Menschen in der Region Molise getötet. 27 von ihnen waren Kinder, deren Schule einstürzte.
joe/AP/DPA/Reuters