Als der Erste Weltkrieg ausbricht, muss der 15-jährige Theodor Pinn warten; warten, bis er endlich eingezogen wird. Bis er "Deutschland, Deutschland über alles" nicht nur singen, sondern leben kann. Im Hungerwinter 1916/17 ist es so weit. Mit "Hurra"-Gebrüll zieht er in die Schlacht. Still kehrt er heim nach Kiel. Seine Kameraden sind im englischen Giftgas verreckt. Zu Hause muss sein Vater, ein Buchhalter, um Steckrüben und Kartoffeln kämpfen, damit die Familie überlebt.
"Die lieben Eltern … sind nur noch Haut und Knochen", notiert seine Schwester. Theodor: "Ich habe keine Lust mehr zum Kriege." Trotzdem sind die Pinns zunächst geschockt, als die Matrosen im Herbst 1918 in der Stadt an der Ostsee rebellieren und die Arbeiter streiken. Als von hier das Signal zur Revolution ausgeht, die das alte Kaiserreich hinwegfegen wird.
Bald aber kehrt der Mut zurück. Mutter Pinn schreibt: "Wenn diese neue Gewalt … dem deutschen Volk Ruhe und Frieden … und ein gutes Fortkommen verschafft, so müssen und wollen wir uns dem Neuen fügen."
Der Widerstand brodelt nach vier Jahren Krieg und Leid und enttäuschten Hoffnungen im Deutschen Reich. Die Novemberrevolution, schreibt der verstorbene Publizist Sebastian Haffner, "war ein führungsloser, aber unaufhaltsamer Vorgang, der aus den Massen hervorbrach."
"Frieden! Freiheit! Brot!"
Es ist schon stockdunkel, als der Protestzug in der Karlstraße abrupt stoppen muss. Im funzligen Licht der Gaslaternen können die Demonstranten kaum erkennen, wer sich ihnen in den Weg stellt. Es sind Schutzpolizisten. 20 Schritte dahinter: bewaffnete Rekruten und Unteroffiziere. "Pfeifen und Gejohle" setzt ein, erinnert sich ein Teilnehmer. Die Kälte lässt die Menschen ebenso zittern wie die Erregung.
Vor einer Stunde haben sie auf dem Exerzierplatz in Gaarden ihre Forderungen herausgebrüllt: "Frieden! Freiheit! Brot!" Dann sind sie losgezogen. Allen voran: Matrosen in ihren blauen Uniformen. Sie sind diesen Krieg unendlich leid. Die Millionen Toten. Die Not. Den Hunger. Den Drill. Während sie durch die Straßen ziehen, rufen sie: "Alles anschließen!" Tatsächlich reihen sich viele Kieler ein, vor allem Arbeiter. Über 6000 dürften sie sein, als sie die Karlstraße erreichen.
Nun stehen sie sich gegenüber. Hier die Matrosen und Arbeiter. Dort die Staatsmacht. Die nachdrängenden Massen schieben den Protestzug auf die Polizisten zu. Panik bricht aus. Dann fallen Schüsse. Kurz darauf liegen sieben Demonstranten tot in ihrem Blut. 29 Menschen sind verletzt, einige von ihnen schwer.
Nach diesen Schüssen am Sonntag, dem 3. November 1918 um kurz nach 19 Uhr, wird im Deutschen Reich nichts mehr so sein wie zuvor.
Das morsche Kaiserreich kollabiert
Sie markieren den Beginn der wohl seltsamsten Revolution der deutschen Geschichte. Während an der Westfront noch gekämpft wird, wird das alte Reich mit seinem Kaiser Wilhelm II. binnen einer einzigen Woche abgeschafft. Und zwar nicht von den Kriegsgegnern, den USA und ihren Alliierten. Sondern vom eigenen Volk, das sich gegen das Schlachten stemmt.
Auslöser sind die meuternden Matrosen der Hochseeflotte – ausgerechnet. Des Kaisers erklärte Lieblinge. Die Salven, die in der Karlstraße auf sie abgefeuert werden, wirken "wie ein Brandbeschleuniger für den Aufstand" . Das schreibt der Historiker Martin Rackwitz in seinem Buch "Kiel 1918. Revolution – Aufbruch zu Demokratie und Republik", aus dem auch die Berichte über Theodor Pinn und seine Familie stammen.
Ausgelöst wurde der Matrosenaufstand in Schillig, einem Dorf am nördlichsten Zipfel Ostfrieslands. Es ist der 29. Oktober, von Westen weht ein milder Nordseewind. Die Seekriegsleitung hat die gesamte Hochseeflotte hier zusammengezogen. Das Nest bildet den militärischen Vorposten des Kriegshafens Wilhelmshaven, der 20 Kilometer südlich liegt. In den Nordseewellen dümpeln die Großkampfschiffe, darunter die SMS "Markgraf", "König" und "Großer Kurfürst" vom III. Geschwader, jedes rund 175 Meter lang, 40.000 PS stark, über 1100 Mann Besatzung.
Der Stolz der Matrosen ist verflogen. Seit dem Kampf gegen Großbritannien am Skagerrak im Juni 1916 haben sie keine Schlacht mehr geschlagen. 29 Monate Langeweile liegen hinter ihnen, von wenigen kleinen Einsätzen abgesehen. War nicht ihre Flotte gebaut worden, um Deutschlands Weltgeltung zu unterstreichen? Nun wollen sie nur noch nach Hause. Doch da ist dieses Gerücht …
Himmelfahrtskommando Richtung Großbritannien
Es heißt, sie sollen noch einmal auslaufen und die Briten attackieren. Admiral Reinhard Scheer, Chef der Seekriegsleitung, habe den Plan mit Konteradmiral Adolf von Trotha ausgeheckt. Die Matrosen sind entsetzt: Die Royal Navy ist übermächtig, die Siegchancen tendieren gegen null. Es wäre ihr sicherer Tod. Und was soll der Einsatz überhaupt? Es hat sich längst herumgesprochen, dass der Krieg militärisch nicht mehr zu gewinnen ist und die Reichsregierung schon seit Wochen einen Waffenstillstand anstrebt. Trotzdem müssen die Matrosen ihre Schiffe munitionieren. "Manövervorbereitung", lügen die Offiziere. Ein Seemann des III. Geschwaders erinnert sich: "Die alten Soldaten konnten die Offiziere nicht hinters Licht führen. Die Schlacht wäre für uns schließlich die letzte gewesen."
Das Verhältnis von Matrosen und Offizieren ist zerrüttet. Die Führungscrew ist in den vergangenen Monaten immer jünger und unerfahrener geworden, weil die versierten Offiziere zu den kämpfenden Einheiten abgerufen werden. Die Grünschnäbel agieren zwischen Arroganz und Überforderung. Gegenüber der Mannschaft haben sie kaum mehr vorzuweisen als ihren Dünkel. Statt zu motivieren, quälen sie die Männer mit Psychoterror und Leibesstrafen. Während sie in ihren schicken Kabinen üppig versorgt werden, müssen die Matrosen unter Deck von immer dünneren Suppen leben.
Am Abend wird der Albtraum der Mannschaft wahr: "Operationsbefehl Nr. 19" wird ausgerufen. Sie sollen die Dampfmaschinen hochfahren, dann in die Straße von Dover und die Themsemündung fahren. Vermutlich werden die Admirale sie sogar anweisen, London zu beschießen. Ein Himmelfahrtskommando. Später stellt sich heraus, dass der Einsatz weder mit dem Kaiser noch der Reichsregierung abgesprochen ist. Mehr noch: Eine neue Schlacht würde wohl alle Friedensbemühungen Berlins zunichte machen.
Schlusskampf als höchstes Ziel im Ersten Weltkrieg
Der riskante Vorstoß der Admirale folgt wohl einem zynischen Kalkül: Lieber sollen die Schiffe mit Mann und Maus absaufen, als kampflos in Feindeshand zu fallen, wie es Großbritannien verlangen würde. Von Trotha beschreibt in seinen "Überlegungen in ernster Stunde": "Der Flotte steht ein solcher Schlusskampf als höchstes Ziel vor Augen … auch wenn er ein Todeskampf wird. Daraus wird ... eine neue deutsche Zukunftsflotte hervorwachsen. Einer durch schmachvollen Frieden gefesselten Flotte ist die Zukunft gebrochen."
Die Matrosen sind aufgewühlt. Als sie die Anker lichten sollen, stellen sich Seeleute des III. Geschwaders quer. Heizer, die im Leib der Kreuzer am elendsten verrecken würden, drohen, das Feuer unter den Kesseln zu löschen, sobald sie deutsches Hoheitsgewässer verlassen. Auf den SMS "Helgoland" und "Thüringen" vom I. Geschwader kommt es zum offenen Aufstand: Rund 600 Matrosen verweigern die Befehle, Offiziere werden entwaffnet. Von Trotha zieht die Reißleine: Er bläst noch in der Nacht das Himmelfahrtskommando ab.
Um die Lage zu beruhigen, lässt die Seekriegsleitung am übernächsten Tag die Einheiten auseinanderziehen. Die Schlachtschiffe sollen in ihre Heimathäfen zurückfahren. Das III. Geschwader mit fünf Großkampfschiffen und etwa 6000 Mann Besatzung dampft ab Richtung Kiel. Als die "Markgraf" den Nord-Ostsee-Kanal durchfährt, werden gegen zwei Uhr nachts zunächst 48, in Kiel weitere 57 Wortführer der Rebellen festgenommen und eingesperrt. Die Mannschaft tobt und fordert, die Gefangenen sofort wieder freizulassen. Vergebens.
Der Zorn der Matrosen greift in den Folgetagen immer weiter um sich. Mehr als jeder zweite der 220 000 Kieler Einwohner ist abhängig von der Marine. Nicht nur die rund 35.000 Marineangehörigen und ihre Familien. Hinzu kommen die etwa 30.000 Arbeiter in den staatlichen, von Offizieren geleiteten Werften und ihre Angehörigen. Seit 1917 schon rufen sie immer wieder wilde Streiks aus, weil Arbeitsbedingungen, Löhne und Versorgung ständig miserabler werden. Admiral Wilhelm Souchon, Gouverneur der Stadt, schreibt in diesen Tagen: "Es gärt bei über 100.000."
Der 4. November beginnt. Um zwei Uhr nachts werden neue Tumulte in den Kieler Truppenunterkünften gemeldet. In zwei Werften kommt es zum Streik. Ein paar Dutzend Matrosen aus der Handwerkerschule bewaffnen sich, immer wieder hört man Schüsse. Andere besetzen den Bahnhof und entwaffnen anreisende Soldaten, die von der Obrigkeit angefordert worden sind. Viele von ihnen laufen freiwillig zu den Rebellen über. Gegen Mittag bäumen sich Tausende Seeleute in den Militärkomplexen der Wik auf. Später ziehen bis zu 2000 zur Arrestanstalt und einigen befreien Gefangene. Souchon muss die Waffen strecken. Der Stadtkommandant meldet: "Die militärischen Machtmittel zur Unterdrückung der Meuterei sind erschöpft."
In Kiel ist der Absolutismus preußischer Machart gebrochen. Auf den Schiffen und bei den Einheiten werden Soldatenräte gegründet, in den Fabriken Arbeiterräte. Sie wollen künftig sozialistisch entscheiden – wie die revolutionären Stadträte der Pariser Kommune von 1871. Politische Köpfe stoßen hinzu. Lothar Popp, Lokalchef der Unabhängigen Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), Verehrer der russischen Oktoberrevolution. Oberheizer Karl Artelt, später Mitbegründer der KPD. Aus Berlin schickt Reichskanzler Prinz Max von Baden eilends SPD-Mann Gustav Noske nach Kiel, einen ausgewiesenen Antibolschewiken, der die Rebellion in Schach halten soll. Er wird tatsächlich zum Vorsitzenden des Kieler Arbeiter- und Soldatenrats gewählt.
Rote Fahnen über Kiel
Die Reichsmarinestadt gehört nun den Rebellen. Stolz ziehen sie mit roten Armbinden durch die Straßen. Auch auf dem Rathaus und den Schiffen wehen bald rote Fahnen. Die Rebellen zwingen sogar den Kaiserbruder Prinz Heinrich, eigenhändig auf einem Turm des Kieler Schlosses die rote Fahne zu hissen. Nikolaus Andresen, ein Ingenieur der Germaniawerft, scheibt an diesem Tag in sein Tagebuch: "In Kiel ist REVOLUTION!" Das klingt fast erschrocken.
Von der Ostsee breitet sich diese Revolution durch das Reich aus. Bis zum 9. November wird es in allen deutschen Großstädten zu ähnlichen Unruhen kommen. Viele Matrosen tragen den revolutionären Funken zu den Arbeitern in ihren Heimatstädten. Überall werden basisdemokratische Arbeiter- und Soldatenräte installiert. USPD-Mann Artelt hat über Nacht mit seinen Genossen "14 Kieler Punkte" ausgearbeitet, die zur Blaupause für das Reich werden. Die wichtigsten Forderungen: Freilassung aller politischen Gefangenen, Rede- und Pressefreiheit, Ende der Zensur, keine Gewalt, Persönlichkeitsrechte.
Der alte Staat muss nicht erobert werden. Er ergibt sich – zur Verblüffung aller – geräuschlos. Überall im Reich räumen Könige, Herzöge und Großherzöge fast widerstandslos den Thron, als die Rebellen anklopfen. "Na, da machd doch eiern Drägg alleene" , soll Sachsens König Friedrich August III. gerufen haben. Wilhelm II. spürt, dass seine Zeit abläuft. Die Alliierten werden seinen Thronverzicht zur Friedensbedingung machen. Tiefgreifende Verfassungsänderungen unterschreibt er wie Spesenabrechnungen. Ende Oktober, als in Wilhelmshaven die Matrosen meutern, lässt er das de facto preußisch-absolutistische Kaiserreich zur parlamentarischen Monarchie umfirmieren. Danach verkriecht er sich bei seinen Offizieren im Hauptquartier im belgischen Spa.
Am Ende erklärt Reichskanzler Prinz Max von Baden eigenmächtig die Abdankung des Kaisers und reicht, entnervt von den Unruhen und geschwächt von der Spanischen Grippe, seinen Job an SPD-Chef Friedrich Ebert weiter. Ohne Parlamentsbeschluss. SPD-Mann Philipp Scheidemann ruft am 9. November von einem Balkon des Berliner Reichstags die erste deutsche Republik aus. Ebenfalls auf eigene Faust.
Ob die rebellischen Matrosen nun Helden der Demokratie sind oder Deserteure, bleibt lange und heftig umstritten. Im Schifffahrtsmuseum Kiel, wo bis zum 17. März die Ausstellung "1918 – die Stunde der Matrosen" läuft, gibt es einen ganzen Ordner mit Anklagebriefen, deren Verfasser der kruden, von der Obersten Heeresleitung erdichteten "Dolchstoßlegende" folgen: vaterlandslose Gesellen, die "Novemberverbrecher", hätten dem "im Felde unbesiegten Heer" den Dolch in den Rücken gerammt.
Haffner weist den Drückeberger-Vorwurf zurück. "Das waren keine Feiglinge und keine Deserteure." Die Matrosen entstammten vielmehr "denkenden Bürgerarmeen". Sich sinnlos zu opfern für einen der Zeit entrückten Ehrenkodex war für sie keine Option. Deshalb nahmen sie das Heft selbst in die Hand.
