Am 7. Januar wird ein 29-jähriger schwarzer Mann von Polizisten bei einer Verkehrskontrolle in Memphis angehalten. Drei Tage später ist Tyre Nichols tot. Nun hat die Stadt im US-Bundesstaat Tennessee erstmals Videos von dem brutalen Polizeieinsatz veröffentlicht.
Die Aufnahmen sogenannter Bodycams der beteiligten – ebenfalls schwarzen – Beamten sowie das Überwachungsvideo einer Verkehrskamera zeigen Bilder, die nur schwer zu ertragen sind. Tyre Nichols, der nach seiner Mutter schreit. Polizisten, die ihn am Boden festhalten und mehrfach zuschlagen – auch ins Gesicht. Sanitäter, die zum Tatort kommen, aber nicht sofort erste Hilfe leisten.
Aber von vorne: Eine Zeitliste der Geschehnisse vom 7. Januar und die Entwicklungen in den Tagen und Wochen danach.
Der Fall Tyre Nichols: Die tödliche Polizeikontrolle im zeitlichen Verlauf
Um 20.24 Uhr wird Tyre Nichols von Polizisten bei einer Verkehrskontrolle in dem Wohnviertel Whitehaven angehalten. An der Kreuzung East Raines Road und Ross Road ziehen ihn Beamte aus dem Auto und drücken ihn nach unten. Immer wieder brüllen sie ihn an, auf den Boden zu gehen – dabei liegt er dort schon. Nichols bittet die Polizisten mehrmals, aufzuhören und ruft: "Ich habe nichts getan". Zunächst heißt es, Nichols sei wegen des Verdachts auf rücksichtsloses Fahren angehalten worden. Später erklärt die Polizeichefin von Memphis, Cerelyn Davis, jedoch in einem Interview mit NBC, dass man nicht genau bestätigen könne, warum Nichols angehalten worden sei.
Eine Minute später kommt es zum ersten Kampf. Mehrere Beamte versuchen, Nichols gewaltsam am Boden zu halten, während sie Schimpfwörter und Drohungen schreien. Man hört Nichols sagen, "okay, ich bin am Boden" und "ihr leistet gerade wirklich viel. Ich versuche nur, nach Hause zu gehen." Sekunden später versuchen ihn die Polizisten mit einem Elektroschocker ruhig zu stellen. Schließlich reißt sich Nichols los und versucht, zu Fuß zu fliehen. Mindestens zwei Beamte laufen ihm nach.
Gegen 20.29 Uhr kommt Verstärkung. Mindestens zwei Polizeiautos halten an der Kreuzung, wo Nichols zunächst gestoppt wurde. Die Polizisten fragen nach seinem Aufenthaltsort. Auf einer Audioaufnahme des Polizeileitzentrums von Memphis ist zu hören, wie ein Beamter um Verstärkung bittet: "Jeder andere Scorpion-Wagen: Fahren Sie nach East Raines und Ross. Wir haben einen Flüchtigen zu Fuß." Die "Scorpion"-Polizeieinheit wurde im Oktober 2021 in Memphis infolge zunehmender Gewaltkriminalität gegründet. "Scorpion" steht für "Street Crimes Operation to Restore Peace in our Neighborhoods", zu deutsch: "Straßenkriminalitäts-Operation zur Sicherung des Friedens in unserer Nachbarschaft". Ihr Auftrag ist es, Tötungsdelikte, Einbrüche und Raubüberfälle einzudämmen.

Es ist circa 20.33 Uhr, als Nichols an einer anderen Straßenkreuzung von Beamten gefasst wird. Aus drei verschiedenen Perspektiven – aufgenommen auch von einer festinstallierten Kamera an einer Straßenlaterne – ist zu sehen, wie die Situation vollends eskaliert. "Schlag ihn", schreit ein Polizist. Zwei Beamte halten Nichols fest, während die anderen brutal mit Fäusten und einem Schlagstock auf ihn einprügeln. Mindestens einer der Polizisten schlägt ihm mehrmals auf den Kopf und tritt ihm ins Gesicht. Mehrere Male schreit Nichols laut "Mama". Das Haus seiner Mutter liegt nur 55 Meter entfernt.
In einem Video sieht man, wie ihm ein Polizist etwas ins Gesicht sprüht. Nichols stöhnt und versucht sich das Gesicht abzuwischen. "Gib mir deine Hände!", schreien die Beamten. "In Ordnung, in Ordnung", sagt er und bewegt sich leicht, um seine Hände hinter seinen Rücken zu legen. "Pass auf, ich sprühe dir noch einmal in die Augen", droht ein Beamter, während er Nichols ein weiteres Mal besprüht.
Der Kampf dauert rund drei Minuten.

Schließlich wird Nichols gegen 20.37 Uhr mit Handschellen gefesselt. Er ist offenbar schwer verletzt und bewegt sich nicht mehr. Die Beamten schleifen ihn zu einem in der Nähe geparkten Einsatzfahrzeug und lehnen ihn gegen die Seite des Wagens. Irgendwann sackt Nichols zu Boden, ein Beamter stützt ihn erneut mit dem Rücken gegen das Auto.

Nach ein paar Minuten, um circa 20.41 Uhr, treffen zwei Sanitäter am Tatort ein. Sie sehen nach Nichols, aber scheinen es nicht eilig zu haben. Erst knapp 16 Minuten später öffnen sie zum ersten Mal ihre Arztkoffer und leisten Erste Hilfe. Weitere Minuten vergehen, bis Beamte eine Trage bringen. Gegen 21.02 Uhr kommt ein Krankenwagen.

Es ist 21.18 Uhr, als Nichols in das rund zehn Kilometer entfernte St. Francis Krankenhaus transportiert wird. Im Krankenwagen klagt er über Kurzatmigkeit.
Drei Tage später, am 10. Januar, erliegt Nichols im Krankenhaus an seinen Verletzungen. Ein Autopsiebericht ergibt, dass er "übermäßige Blutungen erlitt, die durch schwere Schläge verursacht wurden".
Was danach geschieht
Die fünf beteiligten Polizisten sind inzwischen aus dem Dienst entlassen und festgenommen. Sie werden wegen Mordes und anderer Straftaten angeklagt. Nach Veröffentlichung der Videoaufnahmen gibt der Sheriff des Bezirks am Freitag bekannt, dass zwei weitere Beamte, die ebenfalls am Tatort waren, vom Dienst freigestellt worden seien. Es laufe eine interne Untersuchung. Auch gegen zwei Einsatzkräfte der Feuerwehr werde ermittelt, berichtet "CNN".
In den USA kommt es immer wieder zu tödlicher Polizeigewalt mit überwiegend schwarzen Opfern. Doch die brutalen Aufnahmen im Fall von Tyre Nichols sorgen landesweit für besonderes Entsetzen. Auch US-Präsident Joe Biden zeigt sich schockiert. Der Vorfall erinnere ihn an die tiefe Angst, das Trauma, den Schmerz und die Erschöpfung, die viele schwarze Amerikaner und Amerikanerinnen jeden Tag verspürten.
Am Freitagabend gehen in Memphis und anderen Großstädten Hunderte Menschen auf die Straße, um gegen Polizeigewalt zu protestieren. Viele halten Schilder in den Händen. Sie fordern: "Gerechtigkeit für Tyre".
Quellen: "NY Times", "Reuters", "CNN", mit Material der Nachrichtenagentur DPA