Eigentlich reicht schon ein flüchtiger Blick hinter Joe Biden, wenn er am Dienstagabend (21 Uhr Ortszeit; Mittwoch 3 Uhr MEZ) vor den Kongress tritt und seine Rede zur Lage der Nation hält, um einen Eindruck vom Stand der Dinge zu bekommen: kompliziert.
Dort wird der neue Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, sitzen, der sich entschlossen zeigt, den US-Präsidenten in die Mangel zu nehmen. Sei es im Streit um die Schuldenobergrenze der USA, durch Untersuchungen gegen Familienangehörige des Präsidenten oder in der Affäre um falsch eingelagerte Geheimdokumente aus Bidens Zeit als Vizepräsident, die von den Republikanern schon jetzt genüsslich ausgeschlachtet wird. Um nur ein paar Beispiele zu nennen. Jedenfalls wird das Regieren für den Präsidenten in den kommenden zwei Jahren nicht einfacher.
Das ist die Ausgangslage von Joe Biden, der die "Einheit" als "größte Stärke" der USA bezeichnete, und sich nun an eine Nation wendet, die vor vielen Herausforderungen steht und angesichts der neuen Mehrheitsverhältnisse im Kongress auch vor vielen Streitigkeiten zwischen den politischen Lagern. Wie steht es also um die Lage der Nation? Biden dürfte in seiner Rede eine Reihe an Themen ansprechen, einige davon wehen schon durch den amerikanischen Blätterwald.
Ein "Soft Launch" für Joe Bidens Präsidentschaftskampagne?
Allein die letzten Wochen bieten Biden genügend Gesprächsstoff. Nach mehreren tödlichen Schusswaffenangriffen dürfte der Präsident erneut eine Verschärfung des Waffenrechts fordern, hört "Politico", nach dem gewaltsamen Tod des Schwarzen Tyre Nichols durch Polizisten sei außerdem zu erwarten, dass sich Biden für eine Polizeireform aussprechen könnte. Beides dürfte auf Widerstand der Republikaner stoßen.
Und dann wäre da noch die Sichtung und der Abschuss eines mutmaßlichen Spionage-Ballons aus China vor wenigen Tagen. Hat der Präsident genug getan, um den Luftraum der USA zu schützen? Republikaner wie Senator Tim Scott werfen Biden vor, nicht entschlossen und hart genug gegenüber dem Systemrivalen aufzutreten. Das will der Präsident nicht so stehen lassen, folglich sollen seine Redenschreiber die China-Passage noch eilig angepasst haben, wie "Axios" berichtet. Demnach zu erwarten sei eine deutliche Ansage an Peking, aber auch eine Erklärung für den abwartenden Abschuss des Überwachungsballons.
Offenbar nicht zu erwarten ist hingegen eine Erklärung Bidens zu einer erneuten Kandidatur für das Weiße Haus. Jedoch könnte die Rede ein "Soft Launch" seiner Kampagne für 2024 sein, wie es "Politico" formuliert. Biden hatte wiederholt durchblicken lassen, dass er für eine erneute Kandidatur bereit sei, eine Entscheidung hatte er für das Frühjahr in Aussicht gestellt. Laut US-Medien wird diese nun für März oder April erwartet. Die Republikaner, allen voran sein Lieblingsgegner Donald Trump, bringen sich bereits in Stellung.
Nun bietet sich für Biden mindestens die Gelegenheit, einer großen Öffentlichkeit seine politischen Pläne für die nächsten zwei Jahre zu skizzieren – und bestenfalls zu beweisen, dass er als möglicherweise ältester Präsidentschaftskandidat der US-Geschichte noch den nötigen Biss hätte, einen Wahlkampf zu bestreiten.
Daran haben selbst seine Demokraten zunehmend Zweifel: Einer aktuellen Umfrage zufolge befürworten nur 37 Prozent der befragten Parteimitglieder, dass sich Biden für eine zweite Amtszeit zur Wahl stellen sollte. Viele halten den 80-Jährigen für schlicht zu alt. Immerhin: Seine Zustimmungswerte haben sich stabilisiert.
"Diese Rede wird im Weißen Haus zweifellos als Teil der Wiederwahlbemühungen gesehen", glaubt Peter Wehner, der Reden für den ehemaligen Präsidenten George W. Bush schrieb. "Und das bedeutet", sagte er zu NPR, "dass dies eine Art Rede ist, die beginnt, die breiten Konturen einer Wiederwahlkampagne zu skizzieren."
Der Mann für Kompromisse
Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass ein Präsident – ob Republikaner oder Demokrat – die jährliche Rede als Anlass nutzt, um seine Agenda darzulegen und diese (wenn auch indirekt) in Kontrast zur Opposition zur stellen.
Ähnlich, aber anders, könnte es Biden handhaben. Er plane sich als gewissenhafter Präsident zu präsentieren, der willens und fähig ist, selbst in Zeiten tiefer Parteilichkeit überparteiliche Kompromisse schließen zu können. So berichtete es die "New York Times" unter Berufung auf einen Berater, der unter Wahrung seiner Anonymität grob über die strategische Stoßrichtung der Rede gesprochen habe.
Demnach werde der Präsident auf Gesetze hinweisen, die er seit seinem Amtsantritt mit Unterstützung der Republikaner auf den Weg gebracht habe – und an die neue republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus appellieren, daran anzuschließen. Wohl auch in dem Wissen, dass eine solche Zusammenarbeit zunehmend unwahrscheinlich erscheint: Der äußerst rechte Flügel der Republikaner lässt keinen Zweifel daran, dass er Bidens das Leben möglichst schwermachen will.
Darin liegt möglicherweise Bidens Kalkül, der sich als reifer wie ruhiger Erwachsener in einem Kindergarten aus streitlustigen wie dauererregten Republikanern darstellen könnte. Eine Gratwanderung, meint Redenschreiber Wehner: "Sie sprechen vor einem Publikum, das sowohl die Oppositionspartei als auch Ihre eigene umfasst, und Sie wollen als Präsident nicht kleinlich oder spaltend wirken", sagte er.
Während einer Pressekonferenz am Dienstag bestätigte Bidens Sprecherin Karine Jean-Pierre, dass der Präsident über Wirtschaft und Infrastruktur sprechen werde – was kaum verwundert, da der Präsident hier Erfolge herausstellen kann. Die Inflation sinkt, der Jobmotor boomt, das billionenschwere Infrastrukturprojekt lässt sich durchaus als historisch bezeichnen (und wurde überparteilich verabschiedet). Auch die Corona-Pandemie und die Unterstützung für die Ukraine dürfte Biden thematisieren. Nicht zuletzt wolle der Präsident, so seine Sprecherin, auch darüber sprechen, "wie optimistisch er für die Zukunft dieses Landes ist".
Ein deutlich kritischeres Bild der Lage dürfte indes in der traditionellen Gegenrede der Opposition gezeichnet werden. Die Rednerin der Republikaner: Sarah Huckabee Sanders, einst Sprecherin von Ex-Präsident Trump (2017 bis 2019) und inzwischen Gouverneurin des Bundesstaates Arkansas. Sie wolle "das Versagen von Präsident Biden" hervorheben, kündigte sie bereits in einer Erklärung an. "Wir sind bereit, ein neues Kapitel in der Geschichte Amerikas zu beginnen", so Sanders, "dass von einer neuen Generation von Anführern geschrieben werden soll, die bereit sind, unsere Freiheit gegen die radikale Linke zu verteidigen und den Zugang zu hochwertiger Bildung, Arbeitsplätzen und Chancen für alle zu erweitern." Der Ton ist gesetzt.
Obwohl Bidens Halbzeit-Bilanz positiver ausfällt, als sein holpriger Start ins Amt vielleicht erwarten lassen hat, so hat der Präsident wie auch seine Vorgänger längst nicht alles erreicht, was er sich für seine erste Regierungshälfte vorgenommen hat – während der Problemberg wächst (mehr dazu lesen Sie hier).
Nichtsdestotrotz: "Er sollte seine Aufmerksamkeit auf große Legislative Errungenschaften, das Ende des nationalen Pandemie-Notstands, die Stabilisierung und das Wachstum der Wirtschaft und darauf richten, wie gut die Zwischenwahlen für seine Partei gelaufen sind", sagte Julien Zelizer, Präsidentschaftshistoriker an der Princeton Universität, zu "Politico". "Wenn dies irgendein anderer Präsident wäre, ohne die Altersprobleme oder Bedenken darüber, wie die republikanische Kampagne aussehen könnte, wäre dies eine Botschaft um 2024 durchzustarten."
Quellen: "Axios", "Politico", "New York Times", NPR, CNN, "FiveThirtyEight"