Terror in Paris Ich würde gerne die andere Wange hinhalten, aber …

Gib mir ein Gewehr, ich will Terroristen umlegen - seit den Anschlägen in Paris sinnt Frédéric Beigbeder auf Rache. Doch für Auge um Auge ist er zu feige und zu französisch, schreibt der Autor in einem Essay exklusiv für den stern.

Entschuldigung, dass ich nun alles auf mich selbst beziehen werde, aber ein bisschen Autobiografie ist leider unumgänglich, um klar auszudrücken, was ich heute empfinde. Zwei Freunde sind im Bataclan gestorben. Zwei weitere waren bei dem Massaker in der Rue Alibert zugegen. Und ich habe gerade ein Baby bekommen, Oona, ein kleines Mädchen, drei Wochen alt.

Über den Autor

Frédéric Beigbeder, 50, ist Schriftsteller ("39,90") und Herausgeber des Magazins "Lui", des französischen Pendants zum "Playboy"

Im vergangenen Januar, nach der Exekution der Zeichner von "Charlie Hebdo", habe ich Folgendes geschrieben: "Gott ist tot. Ich bin Atheist. Das ist noch schwieriger, als einen Glauben zu haben, denn es gibt keine Hoffnung. Nach dem Tod hört alles auf, und selbst das Leben hat keine Bedeutung. Mein schicker Nihilismus hat der Gewalt vielleicht das Bett bereitet. Vielleicht haben wir durch unsere Verachtung für den absurden Kapitalismus, die verrückte Finanzwelt, die frustrierende Werbung, den Individualismus, der ein Egoismus ist, den Konsum, der nur Unzufriedenheit ist, und durch unsere Verteidigung der Prostitution und der Toxikomanie, vielleicht haben wir durch all das zusammen mit ein paar anderen Spaßvögeln dazu beigetragen, die Jugend meines Landes anzuekeln.

Ich bin ein teilnahmsloser Versager

Ich habe mich mit Wonne und Unverschämtheit in libertärer Post-68er-Dekadenz gewälzt, bis ich für einige zu ihrem fauligsten Symbol wurde. Ich pfeife ebenso auf die Juden und die Muslime wie auf die Katholiken und die Protestanten, die Buddhisten und die Hindus. Ich betrachte mich nicht einmal als Franzose: Ich bin ein Bewohner des Planeten Erde, teilnahmslos, und wollte dies auch bis zu meinem Tode bleiben. Ich bin kein Kandidat für irgendeine Fatwa. Ich bin ein pazifistischer und humanistischer Erdling auf einem verschmutzten Planeten, der immer feindseliger und unmenschlicher wird. Ich bin ein teilnahmsloser Versager."

Aber dieser Zynismus ist mit der Geburt meines Kindes ein bisschen verdampft. Die Ankunft eines neuen Lebens, dieses Stück frisches, rosa Fleisch, dieses unschuldige und lärmende Kind hat mich beinahe vollkommen zum Trottel gemacht. Für einen Moment habe ich geglaubt, dass das Leben einen Sinn hat, dass die Welt wunderbar, dass das Glück doch so einfach sei.

Der ruhigste Samstagabend seit 50 Jahren

Ich habe den Eindruck, dass man mir gestern Abend diesen Optimismus verbieten wollte. Ich bin in einem Pariser Vorort geboren. Ich lebe seit 50 Jahren in Paris. 2015 ist ein sehr seltsames Jahr für mich: Ein Jahr, in dem Leben und Tod nicht aufgehört haben, sich den Krieg zu erklären. Mit 50 ein Kind zu bekommen heißt, dem Tod die Zunge herauszustrecken.

Ich wäre so gerne sicher, dass das Leben diesen Krieg gewinnt. Aber in dem Moment, wo ich diesen Brief hier schreibe, hat der Tod eine Schlacht in Paris gewonnen. Es ist Samstagabend, und die Stadt ist leer. Die Cafés in meiner Straße sind verlassen. Die Kinos und die Buchhandlungen sind geschlossen. Die Polizei rät den Bürgern der Stadt, zu Hause zu bleiben. Ausnahmezustand und nationale Trauer wurden verordnet, die Grenzen sind geschlossen. Dies ist der ruhigste Samstagabend in Paris seit einem halben Jahrhundert.

In Choderlos de Laclos' Briefroman "Gefährliche Liebschaften" gibt es etwas sehr Arrogantes in der Antwort der Marquise de Merteuil auf Brief 153 des Vicomte de Valmont: "Nun gut! Dann eben Krieg!" Hier handelt es sich nicht um eine reif überlegte Kriegserklärung, sondern um eine Art Schulterzucken, angesiedelt zwischen Schmollen und Herausforderung.
Dies ist auch mein erstes Gefühl nach dem Massaker von Paris: Sehr gut, ihr habt es nicht anders gewollt, dann eben Auge um Auge, Zahn um Zahn - aber dies alles mit einem Seufzen. Des Krieges müde. Ganz ohne Leidenschaft. Doch wenn man mich auffordert, bin ich bereit, Drillich und Stiefel anzuziehen, mein Sturmgewehr zu fetten und mich mit Fallschirm über Syrien abwerfen zu lassen, um die Hipster des 11. Arrondissements zu rächen.
Wie sagte noch Florence Willaert, Chefredakteurin meines Magazins "Lui", die zu den ersten Augenzeugen der Schießerei im Le Carillon und im Le Petit Cambodge gehört: "Bei diesen Attentaten haben Jungs, die Schweinefleisch verschmähen, Leute ermordet, die Gluten verschmähen."

Ich habe etwas von George W. Bush in mir

Ich kann nichts dafür: Seit dem Morgen des 14. November habe ich etwas von George W. Bush in mir. "W., verschwinde aus diesem Körper!" Zum Glück bin ich nur Schriftsteller. Wenn ich Präsident der Republik wäre, hätte ich schon lange auf den roten Knopf gedrückt, um alle Atomraketen auf den Islamischen Staat abzuwerfen. Ich hätte nicht gezögert diese Nacht, um zwei Uhr morgens, als die ersten Überlebenden des Bataclan beschrieben, wie die Terroristen den Mädchen, die Richtung Ausgang rannten, in den Rücken geschossen haben. Männer, die Mädchen in den Rücken schießen? Typen, die auf dem Boden liegenden Mädchen den Rest geben? Oh, I love this, ich liebe den Krieg, er ist schöner als Dior. Schnell, ich will Islamisten umlegen. Gebt mir nur schnell ihre Adresse, ich bin der Rambo von Saint-Germain.

Aber mein erster archaischer Reflex ist schwierig zu verwirklichen. Die Minimalanwendung des Talionsprinzips, das ein Gleichgewicht zwischen Täter und Opfer verlangt, würde wohl darin bestehen, willkürlich 130 Zivilisten in einem Erdölstaat zu töten, der den IS finanziert. Und ich glaube zu wissen, dass mein Land Syrien schon seit einiger Zeit bombardiert. Und selbst wenn ich keine Ahnung habe, nehme ich an, dass die Anzahl der "Kollateralschäden" nicht zu vernachlässigen ist, vielleicht gleich hoch oder sogar noch höher als die Anzahl der Opfer in Paris. Hier überrasche ich mich nun bei schändlicher, makabrer Buchführung, auf frischer Tat ertappt bei Morbidität, absurderweise dazu verdammt, etwas zu vergleichen, das sich nicht vergleichen lässt.
Tatsächlich ist der Krieg schon seit Jahren erklärt: Ist das Pariser Blutbad eine Antwort auf die weit entfernten Blutbäder unserer Armee? Oder ist es ein einfacher Massenmord, begangen von blutrünstigen Psychopathen, die ihre Religion nur als Alibi nutzen? Dann beschäftigt mich noch eine andere Frage: Vermeidet man es, in Zukunft bombardiert zu werden, indem man nun den bombardiert, der dich bombardiert hat?
Mein zweiter Reflex ist es, mich an den Katechismus meiner Kindheit zu erinnern. Mir kommt eine Passage des Neuen Testaments in Erinnerung: die Bergpredigt. Man kann schon auf seltsame Gedanken kommen, wenn die Nationaltrauer in einem Land erklärt wird, das zum größten Teil katholisch ist. Vor einer Menge von verblüfften Jüngern verkündete Jesus im Jahre 30 nach sich selbst die alttestamentarische Regel: "Auge um Auge, Zahn um Zahn", fügte aber hinzu: "Widerstrebt nicht dem Bösen. Schlägt man dir auf die rechte Wange, halte auch die linke hin. Liebet eure Feinde. Betet für die, die euch verfolgen."

Ich bin für Rache zu feige

Diese Worte sind von unglaublicher Kraft, aber auch unmenschlich. Unseren Feind zu lieben, geht über unsere Natur hinaus. Jesus versucht zu sagen, dass die Gewaltspirale weniger bewirkt als ein gleichgültiges Lächeln. Und dass wir versuchen sollen, zu verstehen, was bärtige 20-jährige Franzosen dazu treibt, andere bärtige 20-jährige Franzosen mitten in Paris zu erschießen. Das ist die Botschaft eines gewaltlosen bärtigen Propheten, der trotz allem am Kreuz geendet ist. Wenn man euch angreift, reagiert nicht, rührt euch nicht. Der Angreifer will, dass ihr wie er reagiert. Tut ihm nicht diesen Gefallen.
Werden wir die Kraft dazu haben? Ich schäme mich nicht, zu sagen: Ich bin dafür zu feige. Die Dschihadisten sind es auch. Dieser Krieg ist ein Krieg zwischen Feiglingen. Fanatiker schießen Menschen in den Rücken, die auf dem Boden liegen. Sie richten ihr Gewehr gegen die Schläfe der Mädchen auf dem Boden, die weinen und betteln. Und dann schießen sie in die Schläfe dieser Kinder. Wie soll man den Dschihadisten "die andere Wange" hinhalten? Das hieße doch vor allem: zu versuchen, zu kapieren, was einen Teil unserer Jugend in Selbstmordattentäter verwandelt, die es für heldenhaft halten, unbewaffnete Personen zu massakrieren. Würde allein schon die Schönheit dieser Geste - sich für feige und grausame Schwachköpfe zu interessieren - unsere Lebensart retten, unsere Leichtigkeit und die Miniröcke der Pariserinnen?

Wer interessiert sich für die Schwachköpfe?

Entschuldigung, dass ich in einem deutschen Magazin auf die Nazis zurückkommen muss (es gehört zur Plumpheit der Franzosen, Ihnen sofort mit Hitler zu kommen, wenn sie bei Ihnen eingeladen sind, als hätten Sie vergessen, um wen es sich handelt): Aber "sich für feige und grausame Schwachköpfe zu interessieren" , hätte das Europa in den 30er Jahren wirklich gerettet? Oft ist mir allerdings aufgefallen, dass die feigen und grausamen Schwachköpfe nur so geworden sind, weil man sich nicht genug für sie interessiert hat.
Begnügen wir uns für den Moment damit, um unsere Freunde zu trauern, die für einen Mojito, ein Freundschaftsspiel gegen den Weltmeister und ein Konzert mit kalifornischem Rock gestorben sind.
Erlauben Sie mir noch ein letztes Zitat, noch älter als die Evangelien oder der Koran. Ein alter römischer Dichter lehrt uns vielleicht, wie wir in den kommenden Tagen und Wochen unsere Würde wahren können: "Denke daran, Delius, dir in schwierigen Situationen einen gelassenen Sinn zu bewahren, ganz so wie er in guten Situationen von übertriebener Freude freigehalten wurde, denn du wirst sterben müssen, ob du nun die ganze Zeit über betrübt gelebt hast oder dich an festlichen Tagen, im entlegenen Gras zurückgelehnt, an einer exquisiteren Sorte Falernerweins erfreut hast." (Horaz, Oden 2,3, "An Delius")
Ich hoffe, dass ich heute Abend von diesem 2000 Jahre alten Wein trinken kann, während ich dazu Schweinswurst aus der Gascogne esse (ein höchst krebserregendes Produkt), "im entlegenen Gras zurückgelehnt" . Denn ich bin noch immer lebendig. Und noch immer furchtbar französisch.
 

Frédéric Beigbeder;<br />Übersetzung: Stephan Maus

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