Simon Lereng Wilmont Regisseur drehte Film über ein Kinderheim in der Ukraine: "Am Ende sind immer die Kinder die Verlierer"

Kinder aus der Ukraine
Regisseur Simon Lereng Wilmont zeigt in dem von der Kinderrechtsorganisation Save The Children präsentierten Film "A House Made of Splinters" das Schicksal ukrainischer Kinder
© PR
Der Regisseur Simon Lereng Wilmont hat mit einem Film den Alltag in einem ukrainischen Kinderheim dokumentiert. Im stern-Interview erzählt er, wie der Krieg die Kinder in der Ukraine betrifft und welche Probleme es auch schon vor dem russischen Angriff gab.

Seit Jahren schon beschäftigt sich der dänische Regisseur Simon Lereng Wilmont mit der Situation von Kindern in der Ukraine – insbesondere im Osten des Landes, wo schon seit 2014 der Krieg tobt. 2019 stand Wilmont mit seinem Dokumentarfilm "The Distant Barking of Dogs", der die Geschichte eines zehnjährigen Jungen erzählt, auf der Oscar-Shortlist. Für seinen neuen Film "A House Made of Splinters" begleitete er vor dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine das Leben in einem Kinderheim in der Großstadt Lyssytschansk. Damit steht Wilmont aktuell auf der Shortlist für den Europäischen Filmpreis. Zusammen mit Hilfsorganisationen versucht er, die Kinder in der Ukraine zu unterstützen.

Mit dem stern sprach Simon Lereng Wilmont über Kinder, die zu schnell erwachsen werden müssen, die aktuelle Situation seiner jungen Protagonisten und die Zukunft der Ukraine.

Ukraine-Krieg: "Kinder stehen am Ende der Abwärtsspirale"

Herr Wilmont, wie würden Sie den Alltag der Kinder in dem Heim beschreiben?
Simon Lereng Wilmont:
Die Kinder leben dort aus verschiedenen Gründen – weil ihre Eltern trinken, gewalttätig sind oder unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Anders als in vielen anderen Kinderheimen herrscht dort aber eine herzerwärmende Atmosphäre. Die Betreuer versuchen, nicht nur die physischen, sondern auch die emotionalen Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen, und ihnen unter diesen Umständen ein so normales Leben wie möglich zu bieten.

In dem Teil der Ukraine, in dem Ihr Film spielt, herrscht schon seit Jahren Krieg, nicht erst seit Februar.
Ich habe 2020 dort gedreht, etwa 15 Kilometer von der Front entfernt. Da lief der Krieg schon sechs Jahre. Die direkten Auswirkungen waren nicht so groß, aber wenn man so lange einen Krieg vor der Haustür hat, macht das natürlich etwas mit der Gesellschaft. Viele Geschäfte waren geschlossen, Leute wurden entlassen, es gab keine Jobs. Die meisten Familien der Kinder lebten in großer Not.

Simon Lereng Wilmont
Simon Lereng Wilmont

Wie betrifft das die Kinder und wie gehen sie damit um?
Kinder sind sehr widerstandsfähig, solange sich jemand um sie kümmert. Aber diese Kinder lebten in zerbrochenen Familien, wo viel zu viel Alkohol getrunken wurde und es häusliche Gewalt gab. Sie mussten sich um sich selbst und manchmal auch um ihre Geschwister kümmern.

Das fällt in dem Film schnell auf: Die Kinder wirken viel erwachsener als ihre Eltern, sofern sie noch welche haben ...
Absolut! Mich hat sehr beeindruckt, aber auch traurig gemacht, wie sie einen großen Teil ihrer Kindheit übersprungen haben, um für sich selbst Verantwortung zu übernehmen.

Was passierte mit dem Kinderheim, nachdem Russland im Februar die gesamte Ukraine angegriffen hatte?
Die Behörden haben schnell gehandelt und dafür gesorgt, dass die Kinder aus den Waisenhäusern und Kinderheimen per Zug in den Westen des Landes und manche sogar in europäische Länder gebracht wurden. Die meisten Kinder sind so sicher, wie man es in dieser Situation eben sein kann.  Es gab erbitterte Kämpfe in der Gegend, mittlerweile wird die Region von Russland kontrolliert. Eine Rakete hat das Kinderheim getroffen, sie ist durch die Decke des Gemeinschaftsraums gegangen, ist aber nicht explodiert. Jetzt hängt sie da einfach, mitten im Kinderheim.

Das klingt bizarr.
Ja, aber es vermittelt ein gutes Bild von dem, was dort passiert und davon, was für ein Ort das jetzt ist.

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Viele dieser Kinder haben schon vor dem Krieg im Leben nicht viel Glück gehabt. Was bedeutet diese Erfahrung für sie?
Eines der Kinder, Kolja, wurde nach unserem Film in einem anderen Heim untergebracht, aber er konnte immer noch mit seinen vier Geschwistern kommunizieren, die von einer Pflegefamilie aufgenommen wurden. Jetzt ist er in Europa und kann nicht mehr regelmäßig mit ihnen Kontakt haben. Er ist also in Sicherheit, aber für ihn bedeutet das auch, keinen Kontakt mit den Menschen, die er liebt, zu haben. 

Wie sehen Sie die Situation der Kinder in der Ukraine insgesamt: Droht dem Land eine verlorene Generation?
Ich habe während meiner Zeit in der Ostukraine gesehen, was der Krieg mit Erwachsenen macht. Am Ende sind immer die Kinder die Verlierer, sie stehen am Ende dieser Abwärtsspirale. Und jetzt ist die Frontlinie nicht mehr nur 400 Kilometer lang, sondern die ganze Ukraine ist Kriegsgebiet. Deshalb mache ich mir große Sorgen um diese Generation.

Welche Möglichkeiten haben Sie – mit den Erfahrungen und Kontakten durch Ihre Filme – zu helfen und sich zu engagieren?
Zusammen mit der Organisation "Voices for Children", die unsere Koordinatorin in der Ukraine betreibt, konnten wir viel Hilfe leisten. Sie haben zum Beispiel eine Hotline eingerichtet, bei der Kinder mit einem Psychologen, der auf Kindertraumata spezialisiert ist, reden können. Mein Part ist es, so viele Spenden wie möglich zu sammeln. Bei der Premiere in Kiew war außerdem eine Ombudsfrau für Kinderrechte dabei, sie möchte eine Privatvorführung unseres Films für Präsident Selenkyj organisieren, weil sie glaubt, dass er viele Möglichkeiten zeigt, wie die Ukraine wieder neu aufgebaut werden kann – wenn sie irgendwann die Russen rausgeworfen haben.

Die Menschen in den von Krieg und Gewalt betroffenen Gebieten in der Ukraine brauchen unsere Hilfe. Die Stiftung stern arbeitet mit Partnerorganisationen vor Ort zusammen, die von uns geprüft wurden. Wir leiten Ihre Spende ohne Abzug weiter. Über diesen Link kommen Sie direkt zu unserem Spendenformular.
Die Menschen in den von Krieg und Gewalt betroffenen Gebieten in der Ukraine brauchen unsere Hilfe. Die Stiftung stern arbeitet mit Partnerorganisationen vor Ort zusammen, die von uns geprüft wurden. Wir leiten Ihre Spende ohne Abzug weiter. Über diesen Link kommen Sie direkt zu unserem Spendenformular.

Sie waren vor wenigen Wochen selbst in Kiew, welche Eindrücke haben Sie mitgenommen?
Einige waren besorgt über die Atomdrohungen Putins, aber alles in allem waren die Leute in Kiew davon erfüllt, Widerstand zu leisten, zu kämpfen und diese schreckliche Zeit zu überstehen. Sie haben ihren Humor und ihre positive Sicht aufs Leben behalten. Sie sind widerstandsfähig und haben nicht die Hoffnung verloren. Das hat auch mich optimistisch gemacht.

Zum Schluss: Was wünschen Sie den Kindern in der Ukraine für die Zukunft?
Zuerst natürlich, dass der Krieg aufhört. Ich hoffe, dass Familien wieder zusammenfinden und es große Bemühungen geben wird, nicht nur die körperlichen, sondern besonders auch die seelischen Verletzungen zu heilen. Denn es kommt vor allem darauf an, dass die Kinder mit ihren Lieben zusammen sind und es ihnen gut geht.

"A House Made of Splinters" läuft aktuell beim Human Rights Festival in Berlin, kuratiert von der Kinderrechtsorganisation Save the Children. Der Film ist am 23. Oktober (20.30 Uhr) vor Ort oder per Stream zu sehen. 

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