Der nordkoreanische Diktator Kim Jong Un ist mit seinem geliebten Panzerzug von seiner Hauptstadt Pjöngjang zum russischen Weltraumbahnhof Wostotschny gereist. Mit urtümlicher Technik aus den Anfängen des Industriezeitalters ging's zu Putins neuem High-Tech-Standort. Zwei starke Dieselloks zogen Kims Spezial-Zug.
Kims Ungetüm macht durchaus was her: Die olivgrünen Waggons mit durchlaufendem gelben Streifen verfügen über eine besondere Schutzlackierung, die verhindert, dass der Zug vom feindlichen Radar geortet werden kann. Boden und Wände halten nach Informationen des südkoreanischen Ministeriums für Wiedervereinigung in Seoul gezielten Sprengstoffanschlägen stand. Die Fenster sind kugelsicher.
Die Rundum-Panzerung macht den Zug allerdings recht schwerfällig. Der Stahlkoloss bewegt sich mit einer Reisegeschwindigkeit von nur 60 Stundenkilometer vorwärts. Für die etwa 2600 Kilometer durch Russlands fernen Osten dürften Kim und seine Entourage wohl insgesamt rund 40 Stunden gebraucht haben. Das ist natürlich überaus umständlich. Da stellt sich die Frage: Warum nutzt der koreanische Diktator überhaupt solch ein schwerfälliges und unbequemes Reisemittel?
Pompöse Macht-Inszenierung
Meist heißt es dazu, Kim nutze seinen Panzerzug aus Sicherheitsgründen. Aber das ist nicht sehr plausibel. Schließlich wurde er auch schon in einem komfortablen Privatjet gesehen. Und zu seinem Gipfeltreffen mit dem früheren US-Präsidenten Donald Trump im Juni 2018 reiste er mit einer chinesischen Linienmaschine. Ginge also auch bequemer.
Der wahre Grund für Kims kurioses Reisemittel ist ein anderer: Der Diktator nutzt seine Russlandreise zur pompösen Inszenierung seiner Macht. Und kaum ein internationales Medium, das nicht alles verfügbare Material zum wunderlichen Panzerzug aus seinen Archiven hervorgeholt hätte. All die erstaunten Berichte über den massigen Sonderzug beweisen, wie gut die Propaganda-Strategie des rätselhaften Diktators funktioniert.
Kein Wunder, dass Kim sich mit Inszenierungen auskennt: Sein Vater war leidenschaftlicher Kino-Liebhaber und besaß Tausende von Filmen. In dieser Sammlung konnte Kim erlernen, wie man wirkmächtige Bilder in die Welt setzt. Heute ist er ein Meister im Erschaffen von Memes und ikonischen Szenen. Allein seine wunderliche Frisur ist perfektes Branding. Hier spielt er mit Boris Johnson und Donald Trump in einer Klasse.
Immer mit dabei: Helikopter und Limousine
Ein Panzerzug ist eine der besten bildlichen Umsetzung totalitärer Macht. Gemächlich rollt der Herrscher mit riesigem Tross durch sein Reich und die befreundeten Staaten. Hektisch müssen alle Bahnübergänge gesichert und alle Bahnhöfe gesperrt werden. Handynetze müssen stumm geschaltet, Anwohner von den Straßen ferngehalten werden.
Vor dem Stahl-Ungetüm des Diktators muss noch ein weiterer Zug mit Sicherheitsleuten fahren, die Bahnhöfe und Strecke überprüfen. Hinter dem Diktatoren-Zug fährt dann noch ein dritter Zug mit Leibwächtern. Der Tross führt gepanzerte Limousinen und Helikopter mit sich, damit man im Notfall flüchten kann. Das macht zwar alles sehr große Umstände. Aber was soll's: Je mehr Umstände für jemanden gemacht werden, desto mächtiger ist er. Doktor No würde nicht anders reisen. Wahre Imperatoren fahren Panzerzug.
Im Inneren von Kims Panzerzug geht's zu wie im vorrevolutionären Versaille. Es werden Champagner, Cognac und Schweizer Käse serviert. Im Spa-Bereich gibt's Gelegenheit zum Ausspannen. Der russische Beamte Konstantin Pulikowsky begleitete einst Kims Vater bei einer Zugreise und erinnert sich: "Es war möglich, jedes Gericht der russischen, chinesischen, koreanischen, japanischen und französischen Küche zu bestellen." Die rollende Festung ist auch rumpelnder Palast. Kein Vergleich zu den schnöden Pannenfliegern der deutschen Regierung.
Dass es kaum Bilder von Kims Reise gibt, schadet ihrem Propaganda-Effekt nicht. Im Gegenteil. Das macht seine Zugreise geheimnisvoll. Der Panzerzug erscheint wie ein Wundergefährt aus einem Jules-Verne-Roman. Ein direkter Verwandter von Kapitän Nemos U-Boot "Nautilus" mit seiner Bibliothek und ihren 12.000 Büchern.
Kriegskommissar Trotzki in rollender Festung
Mit untrüglichem Diktatoren-Instinkt hat Kim verstanden, dass gerade für eine Russlandreise ein Panzerzug das denkbar beste Verkehrsmittel ist. Schließlich kann man mit keinem anderen Gefährt der ruhmreichen Geschichte des Landes besser huldigen. Denn Chef-Revolutionär Leo Trotzki persönlich reiste ebenfalls am liebsten in einem Panzerzug. Von 1918 bis 1920 fuhr Kriegskommissar Trotzki in einer rollenden Festung die riesige Front des russischen Bürgerkrieges ab und koordinierte die Angriffe seiner frisch gegründeten Roten Armee von der Schiene aus.
In seinen Memoiren schreibt Trotzki: "Während der anstrengendsten Jahre der Revolution, war mein Privatleben untrennbar mit dem Leben des Zuges verbunden. Der Zug hingegen war untrennbar mit dem Leben der Roten Armee verbunden. Der Zug verband die Front mit der Basis, löste dringende Probleme direkt vor Ort, belehrte, machte Eindruck, versorgte, belohnte und bestrafte."
Gepanzerte Züge waren einer der wichtigsten Gründe für den Sieg der Bolschewiki während des russischen Bürgerkrieges. Gab es 1918 nur 38 Panzerzüge, waren es 1920 schon 103. In einem Land mit nur wenigen befestigten Straßen waren Panzerzüge das effizienteste Transportmittel. Nur mit ihrer Hilfe ließ sich eine Front von 8000 Kilometern überhaupt kontrollieren.
Mehr als einen Panzerzug braucht man eigentlich auch nicht, um einen Krieg zu gewinnen. Oder noch einmal in Trotzkis Worten: "Man brauchte gute Kommandeure, ein paar Dutzend erfahrene Kämpfer, etwa ein Dutzend Kommunisten, die bereit waren, jedes Opfer zu bringen, Stiefel für die Barfüßigen, ein Badehaus, eine energische Propagandakampagne, Lebensmittel, Unterwäsche, Tabak und Streichhölzer. Für all das sorgte der Zug."
Auch Trotzki machte sich die Propaganda-Wirkung seines Gefährts zunutze. In seinen Memoiren erinnert er sich, dass der mysteriöse Zug unendlich schlimmer gewirkt habe, als er in Wirklichkeit gewesen sei.
Stalins fauchendes Geschenk
Schon Kims Vater und Großvater reisten am liebsten in gepanzerten Hochsicherheitszügen. Die Familientradition gründet sich direkt auf die Freundschaft zwischen Nordkorea und dem revolutionären Russland. Schließlich heißt es, es war Stalin höchstpersönlich, der Kims Großvater Kim Il Sung einen holzgetäfelten Hochsicherheitszug schenkte. So ist der Panzerzug konkret ratterndes Symbol der nordkoreanisch-russischen Freundschaft.
Mit der Wahl seines aufsehenerregenden Reisemittels zitiert Kim also ganz bewusst die siegreiche russische Revolution. Er schmeichelt damit explizit Vladimir Putin, der sich immer wieder auf die glorreiche Geschichte Russlands beruft, um seinen Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Welcher neosowjetische Imperialist wäre nicht gern wie Trotzki?
Kims große Propaganda-Parade – mit Russland als Ehrengast

Kim sendet mit seinem Panzerzug nicht zuletzt eine deutliche Drohbotschaft an den Westen. Er suggeriert: Putin und ich, wir werden siegen wie damals Trotzki. Das Ungetüm soll deutlich vor Augen führen, dass Atommächte selbst noch mit archaischer Technik – Panzerplatten, Nieten, Diesel und Schmiere – die Welt in Furcht und Schrecken versetzen können. Wer braucht schon Atomraketen, um Länder zu annektieren? Rumpelnd raunt der Stahl-Koloss, dass konventionelles Kriegsgerät, so wie Kim es nun wohl bald an Putin liefern wird, vollkommen ausreicht, um ein Land zu terrorisieren. So, wie es Tag für Tag in der Ukraine geschieht.
Mit seiner gemächlichen Herrscher-Parade signalisiert der koreanische Diktator: Selbst Systeme von vorgestern können sich noch sehr, sehr lange an der Macht halten. So wie der alte Panzerzug aus Stalins Werkstätten.