Wer das Europäische Teilchenforschungszentrum Cern in der Nähe von Genf betritt, merkt schnell, dass sich hier alles um Physik dreht. "Route Marie Curie", "Route Pauli", "Route Max Planck" und "Route Einstein": Nobelpreisträger und bekannte Naturwissenschaftler sind hier an jeder Straßenecke anzutreffen. Vor der Kantine thront eine Röhre des Teilchentunnels. Dahinter Bürogebäude, die den Charme der sechziger Jahre versprühen - mit grauen Fußböden, wackeligen Jalousien an verrosteten Fensterrahmen und Holztüren. Die Lichter in manchen Büros brennen bis tief in die Nacht, es werden Daten ausgewertet und Theorien überprüft. An klaren Tagen ist von hier aus der Mont Blanc zu sehen.
Doch in der Regel beobachten die Forscher am Cern keine Berge, sondern viel Kleineres: Teilchen, die ihnen etwas über den Aufbau der Materie verraten. Um die Geheimnisse des Mikrokosmos zu entschlüsseln, haben sie den größten Teilchenbeschleuniger der Welt gebaut: den LHC (Large Hadron Collider), der in einer Tiefe von etwa 100 Metern im Grenzgebiet zwischen Frankreich und der Schweiz verläuft. 27 Kilometer ist die riesige Röhre lang.
Die Aufgabe des LHC: mehr über die Bausteine der Materie und die Vergangenheit unseres Universums herausfinden. Dafür lassen die Wissenschaftler in dem Ring zwei Teilchenstrahlen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit kreisen und an vier Stellen aufeinanderprallen - und zwar mit so hoher Energie wie sie noch nie zuvor in einem Beschleuniger erreicht wurde. An den Stellen, an denen es kracht, entstehen Zustände wie kurz nach dem Urknall, auf allerkleinstem Raum wird es ein Vielfaches heißer als im Inneren der Sonne. Detektoren zeichnen auf, was dort passiert.
Seit 2009 ist der LHC in Betrieb. Mitte 2012 konnten die Wissenschaftler ihren bis jetzt größten Erfolg vermelden - die Entdeckung eines Higgs-ähnlichen Teilchens. Dass es sich um das lang gesuchte Teilchen handelt, das erklären soll, wie andere Teilchen zu ihrer Masse kommen, ist mittlerweile mit ziemlicher Sicherheit klar. Doch um welches genau, das steht noch nicht fest: um das vom Standardmodell vorhergesagte oder um eines von mehreren Higgs, die gemäß einer anderen Theorie, der Supersymmetrie, existieren. Um diese Frage zu beantworten, sind noch mehr und präzisere Daten nötig - die der LHC bald liefern soll.
Doch momentan heißt es "Shutdown: No beam", kein Teilchenstrahl. Denn der LHC ist heruntergefahren und wird gewartet. Etwa zwei Jahre haben die Forscher und Techniker Zeit, an dem Tunnel und den großen Detektoren zu basteln, um die Leistung zu verbessern. Klingt lange, doch alleine das Herunterkühlen des kompletten Tunnels auf die Betriebstemperatur dauert etwa vier Monate. 2015 soll der Riese von Genf zum ersten Mal seine Höchstenergie erreichen - dann wollen die Physiker noch tiefer in die Geheimnisse der Materie eindringen. "Der LHC ist quasi eine neue Maschine, wenn er wieder anläuft", sagt Cern-Chef Rolf-Dieter Heuer.
Helm auf und ab in die Tiefe
In der Zwischenzeit lässt sich die Anlage so gut wie zu keinem anderen Zeitpunkt besichtigen. Die riesigen Strahlungsabschirmungen der großen Detektoren sind offen, die Kavernen sind zugänglich. Sobald der LHC wieder läuft, darf wegen der Strahlung und des enorm starken Magnetfeldes keiner mehr diese großen Hohlräume betreten, in denen die Detektoren untergebracht sind.
Doch nun ruht der Riese. Also: Helm auf, ein kurzer Blick auf die Schuhe, die geschlossen sein müssen, und eine Einweisung in die Sicherheitsvorkehrungen - dann geht es im Aufzug in die Tiefe. 90 Meter unter die Erde, zum Atlas-Detektor. Angenehm kühl ist es im Inneren der Kaverne. Die Ventilatoren, die für die Temperatur sorgen, brummen, und mechanische Spannungen sorgen für ein Knistern. Da steht er: der Atlas-Detektor, 25 Meter hoch, ein Gewicht wie der Eiffelturm, die äußeren Detektoren wie einen Kranz aus Sonnenstrahlen angeordnet.
"Selbst Hollywood war schon einmal hier", sagt Christoph Rembser. Seit 16 Jahren ist er Teilchenphysiker am Cern, leitet dort ein Projekt am Atlas. Für den Blockbuster "Illuminati" schaute sich ein Filmteam den Detektor an. In dem Film wird hochexplosive Antimaterie aus dem Cern geklaut, um damit den Vatikan zu vernichten. Doch den Science-Fiction-Ansprüchen genügte das nüchterne Ambiente nicht. "Schließlich haben sie alles im Computer rekonstruiert", sagt Rembser und lacht.
Um die Herstellung von Antimaterie geht es bei Atlas auch nicht. Vielmehr sind die Forscher am Cern damit auf der Suche nach noch unentdeckten Bausteinen der Materie. Um sie nachzuweisen, zeichnet der Detektor wie eine große Kamera den Zerfall von Teilchen und deren Spur auf - "mit einer Genauigkeit von 50 Mikrometer", wie Rembser betont. Zum Vergleich: Das entspricht etwa dem Durchmesser eines Haares.
Warum der LHC generalüberholt wird
"Der Atlas-Detektor ist wie ein Energiemesskäfig, in dem wir versuchen, die Teilchen zu stoppen - ähnlich einer Gewehrkugel, die durch Gelatine dringt", sagt Daniel Dobos. Der 34-Jährige ist ebenfalls Physiker am Atlas-Experiment. Der Weg, den die Teilchen zurücklegen, und die Stärke der Krümmung verrät den Forschern etwas darüber, mit wem sie es zu tun haben. 40 Millionen Bilder pro Sekunde kann der Detektor aufzeichnen.
Doch all das reicht den Physikern noch nicht. Daher bekommt Atlas in der Betriebspause ein Upgrade. "Eine zusätzliche Pixelschicht wird in den Detektor eingebaut, damit wir noch genauer sagen können, was beim Zusammenprall der Teilchen passiert", erklärt Dobos. Auch die anderen Experimente werden während des Shutdowns überarbeitet und verbessert, damit sie die zusätzlichen Daten, die bei höheren Energien anfallen, besser verarbeiten können. Die Forscher haben ebenfalls noch genug zu tun: Sie sind damit beschäftigt, die bis jetzt gesammelten Daten noch genauer auszuwerten - und im LHC-Tunnel wird ebenfalls gewerkelt.
Dort, in etwa 100 Metern Tiefe entdecken Besucher etwas, was man nicht zuerst im Tunnel vermuten würde: Klappfahrräder. Bei 27 Kilometern Tunnellänge können diese allerdings hilfreich sein. So lassen sich die Stellen, an denen gearbeitet wird, besser erreichen. Ganz tief rein darf allerdings nur, wer eine Metalldose mit Sauerstoffgerät bei sich trägt. Eine Extraportion Luft, zur Sicherheit, falls doch einmal das zum Kühlen der Magnete eingesetzte Helium in den Tunnel gelangt und den Sauerstoff verdrängt.
Wenn Oliver Brüning von den technischen Meisterleistungen des LHC erzählt, leuchten seine Augen. Der 49-Jährige ist kaum zu stoppen. "Die größte Herausforderung beim Bau waren die Magnete", sagt der Leiter der Gruppe, die maßgeblich für die Entwicklung und den reibungslosen Betrieb der Beschleunigeranlage zuständig ist. "Diese supraleitenden Magnete, die die Teilchen auf ihrer Bahn halten, sind die stärksten, die bis jetzt hergestellt wurden. Sie werden mit etwa 13.000 Ampere betrieben. Die LHC-Magnetkabel transportieren damit einen Strom, der dem von mehr als 10.000 Haushalten entspricht", sagt Brüning. Damit der Strom in den dünnen Kabeln verlustfrei fließen kann, werden sie auf minus 271,3 Grad Celsius heruntergekühlt - eine Temperatur unter der des Weltraums. "So entstehen Magnetfelder, die 50.000 Mal stärker sind als das Magnetfeld der Erde am stärksten Punkt", sagt Brüning.
Doch ganz so reibungslos hat das nicht immer geklappt: 2008 verlor eine Verbindung zwischen den Magneten die Supraleitung. Die Kabel schmolzen durch, und einige Magnete waren ruiniert. Ergebnis: eine fast einjährige Pause, in der die Schäden repariert werden mussten. Damit so etwas bei höheren Energien nicht noch einmal passiert, überprüfen und überarbeiten die Techniker während des Shutdowns unter anderem die etwa 10.200 supraleitenden Stromverbindungen zwischen den Magneten. Zudem werden 1695 Verbindungen zwischen den Magneten geöffnet und einige Magnete ausgetauscht.
Die Maschine von morgen wird heute geplant
Brüning und sein Team denken unterdessen schon über Nachfolger für den LHC nach, über Teilchenbeschleuniger, die noch leistungsstärker und energiereicher sind. "Zuerst müssen uns allerdings die Ergebnisse am LHC zeigen, in welchen Energiebereichen neue Entdeckungen vermutet werden", sagt er. "Erst dann wird man eine Maschine bauen, die dorthin vordringen kann." Doch Konzepte dafür müssen schon heute entwickelt werden, so der Physiker. "Die Projekte sind so komplex, dass sie etwa 20 Jahre Vorlaufzeit brauchen." Auch wenn der LHC ruht und keine Teilchenströme in dem Tunnel kreisen: Langeweile dürfte bis 2015 wohl kaum aufkommen.
Zwei, drei Tage vor dem Ende des Shutdowns, wenn alles erledigt ist, wird gefeiert, sagt Christoph Rembser vom Atlas-Experiment. Dann gibt es ein Happening im Inneren der Kaverne, mit Croissants, - und die Teilchensuche beginnt. Aber erst einmal nicht die übliche: Zuerst wird nach Schrauben gesucht. Oder nach dem vergessenen Schraubenzieher, scherzt Rembser. Jedes magnetische Metallteil muss gefunden werden, ansonsten würde es mit hoher Geschwindigkeit in den Detektor knallen, sobald dieser wieder an ist. Wenn das Aufräumkommando alles findet und beim Hochfahren des LHC alles klappt, kann die Jagd erneut beginnen.
Denn im Universum gibt es noch eine ganze Menge zu entdecken und zu verstehen. So bestehen lediglich fünf Prozent des Alls aus sichtbarer Materie. Der Rest setzt sich aus etwas zusammen, was Physiker als Dunkle Materie und Dunkle Energie bezeichnen. "Seit ich am Cern bin, suche ich nach Dunkler Materie", sagt Rembser. "Ich bin mir relativ sicher, dass wir zumindest bald Hinweise bekommen, was das wirklich ist."