Was passiert, wenn zwei schlafende Riesen erwachen und 2,5 Milliarden Menschen plötzlich denselben Träumen hinterher jagen wie Europäer, Amerikaner und Japaner? Wenn sie ein eigenes Auto wollen, Fernseher, Computer und iPods, wenn sie in Großstädte drängen, statt weiter in Dörfern zu leben wie ihre Eltern und Großeltern. 2,5 Milliarden Menschen, das sind die Einwohner von Indien und China zusammengenommen - 40 Prozent der Weltbevölkerung, die immer mehr Öl verbrauchen, Strom verlangen und fließend Wasser benötigen. Kann das gut gehen?
Nur wenn die beiden Länder andere Wege gehen als die Industriestaaten und wenn die ganze Welt gemeinsam umdenkt, argumentiert Christopher Flavin, Präsident des Worldwatch Institute ( www.worldwatch.org), eines unabhängigen Forschungsinstituts für Umwelt- und Sozialstudien.
"Unser derzeitiges Modell wird nicht länger funktionieren, wenn Indien und China selbst zu Industriestaaten werden", warnte Flavin am Freitag in einer Rede vor dem Commonwealth Club ( www.commonwealthclub.org) in San Francisco, Kalifornien. Am deutlichsten zeige sich das beim Ölkonsum: Derzeit verbrauchen Amerikaner im Durchschnitt mehr als 4000 Liter Öl pro Kopf und Jahr. Die Deutschen konsumieren knapp 1900 Liter, Japaner etwa 2400, Chinesen dagegen nur gut 300 und Inder lediglich 143 Liter pro Kopf und Jahr.
Das Klima steht auf der Kippe
Doch der Energiehunger der beiden Entwicklungsländer wächst dramatisch. Sollten Indien und China jemals so viel Öl benötigen wie Deutschland oder Japan, "müsste doppelt so viel Öl gefördert werden wie heute", sagt Flavin. "Nicht mal die optimistischsten Manager der Ölfirmen glauben, dass das möglich wäre." Und selbst wenn es genügend Ölvorkommen gäbe, um den gigantischen Durst zu stillen - der Erde drohte der Klimakollaps. "Die Umweltverschmutzung hat schon jetzt Dimensionen angenommen, die auf Dauer nicht haltbar sind", warnt der Worldwatch-Präsident. "Die Anzeichen wachsen, dass unser Klima auf der Kippe steht."
Warum er trotzdem Grund sieht, optimistisch in die Zukunft zu blicken, erklärte Flavin, 50, im Anschluss an seine Rede in einem exklusiven Interview mit stern.de.
Herr Flavin, welchen Einfluss hat der Wirtschaftsboom in Indien und China auf den Rest der Welt?
Wir stehen am Scheideweg: Wir können entweder so weitermachen wie bisher - oder das Erwachen dieser beiden mächtigen Nationen als Signal sehen, unser Verhalten zu ändern. Eine Weltwirtschaft, die auf Öl basiert, lässt sich nicht länger aufrechterhalten. Wenn Sie sich anschauen, wie viel Kohlendioxid zusätzlich ausgestoßen würde - die Folgen für die Atmosphäre wären verheerend. Ähnliches gilt für andere Umweltressourcen, etwa die Nutzung von Land und den Verbrauch von Wasser. Die moderne, industriell geprägte Wirtschaft in der Form, in der wir sie derzeit haben, hält einer Belastung durch weitere 2,5 Milliarden Menschen nicht stand. Wir müssen das System neu erfinden.
Wie soll das gehen?
Es gibt erste Anzeichen für eine echte Revolution bei der Energiegewinnung. Die am schnellsten wachsenden Quellen sind nicht Kohle, Öl und Atomkraft, sondern Sonnenenergie, Windkraft und Biomasse. Bei all diesen Arten der Energiegewinnung sehen wir Wachstumsraten von weltweit 25 bis 40 Prozent im Jahr. Man könnte von einer neuen Boombranche sprechen, so ähnlich wie die Computerindustrie und Telekommunikation. Wir beobachten das bereits in Europa, besonders auch in Deutschland, wo erneuerbare Energietechnik zu einem bedeutenden Geschäft geworden ist. Aber man sieht es auch in den USA, die Deutschland in Sachen Windkraft unlängst überholt haben. Dazu kommt Asien: Indien und China unternehmen große Anstrengungen, um erneuerbare Energien zu fördern. Im Moment deutet alles auf einen tief greifenden Wandel im Energiemarkt hin.
Europäische Firmen haben früh in erneuerbare Energien investiert. Dürfen sie nun hoffen, davon zu profitieren?
Ich denke schon - allerdings eher bei der Entwicklung als bei der Herstellung solcher Anlagen. Die große Herausforderung wird das schwache Wachstum innerhalb Europas sein, und es wird schwer werden, Energietechnik zu wettbewerbsfähigen Preisen in Niedriglohnländer wie China oder Indien zu exportieren. Wer mithalten will, wird Joint-ventures eingehen müssen, bei denen die europäischen Firmen mit Herstellern in den Entwicklungsländern zusammenarbeiten.
Glauben Sie, dass die USA es schaffen werden, ihren Öl-Bedarf zu reduzieren?
Ich glaube, dass die hohen Benzinpreise Wirkung zeigen. Der Absatz von spritdurstigen Geländewagen, so genannten "SUVs", ist um bis zu 50 Prozent gefallen. Hybrid-Autos, die Otto- und Elektromotor kombinieren, sind dagegen so gefragt, dass die Lieferzeiten bis zu sechs Monate betragen. In vielen amerikanischen Städten fahren jetzt deutlich mehr Menschen mit Bussen und Bahnen.
Was ist der wichtigste Schritt, um den Klimakollaps zu verhindern?
Wir müssen lernen, Energie weitaus effizienter zu nutzen. Das würde den Ölverbrauch reduzieren und zugleich den Ausstoß an CO2 senken. Eine deutliche Verbesserung der Energienutzung - etwa um den Faktor vier oder fünf - erfordert allerdings eine gewaltige Anstrengung von uns allen. Das schließt die Wirtschaft genauso ein wie jeden Einzelnen von uns. Es bedeutet aber auch politische Vorgaben, denn dieses Ziel ist nur zu erreichen, wenn es schärfere Richtlinien zum Benzinverbrauch gibt und wenn Treibstoff höher besteuert wird.
Was genau können einzelne Bürger tun?
Sie können Strom und Wasser sparen, sie können umweltfreundliche Produkte kaufen, sie können von ihren Politikern Umdenken und neue Lösungswege verlangen.
Macht es wirklich einen Unterschied, was einige Millionen Deutsche tun im Vergleich zu 2,5 Milliarden Chinesen und Indern?
Die Chinesen und Inder achten darauf, wie wir uns verhalten. Wenn wir unseren Worten Taten folgen lassen, zeigt das Wirkung. Gerade Deutschland hat bei erneuerbaren Energien ein Beispiel für die Welt gesetzt. Der Rückgang der Kohlendioxid-Belastung, der dadurch bewirkt wurde, mag global gesehen eher gering gewesen sein - aber die Initiativen hatten Signalwirkung: Ich glaube nicht, dass China und Indien erneuerbare Energien so ernst nehmen würden, wie sie es tun, wenn sie nicht gesehen hätten, wie entschlossen Deutschland vorangegangen ist. Das macht wirklich einen Unterschied. Das neue chinesische Gesetz zur Förderung alternativer Energien ist sogar in vielen Teilen praktisch direkt nach deutschem Beispiel übernommen worden. Auch wir beim Worldwatch Institute zeigen gern nach Deutschland und sagen: Wenn Sie sehen wollen, wie ein vorbildliches Energieprogramm aussieht, schauen Sie sich an, was die Deutschen machen.
Wenn wir, wie Sie sagen, am Scheideweg stehen - glauben Sie, dass es uns gelingt, die richtige Richtung einzuschlagen?
Es wird sehr vieles gleichzeitig passieren. Einerseits erschließen wir neue Energiequellen, andererseits verkaufen wir mehr Autos und bauen neue Kohlekraftwerke. Die Situation ist durchwachsen. Aber ich glaube, alles in allem sind wir dabei, uns in die richtige Richtung zu bewegen.
Interview: Karsten Lemm