Mehrere Regierungen alarmiert Was hinter der Anschlagsgefahr in Afghanistan steckt

Einschusslöcher an einem US-Militärfahrzeug
Einschusslöcher an einem US-Militärfahrzeug
© WAKIL KOHSAR / AFP
Kurz vor dem Ende der Rettungsflüge warnten mehrere Länder vor der wachsenden Anschlagsgefahr in Afghanistan. Nun bestätigt das Pentagon eine Explosion vor dem Flughafen in Kabul. Werden die Befürchtungen wahr?

Die Ereignisse überschlagen sich, wieder einmal, und die Bedrohungslage erreicht eine neue Eskalationsstufe: Nach Angaben des Pentagon hat sich am Donnerstag vor dem Flughafen von Kabul eine Explosion ereignet, die Hintergründe seien allerdings noch unklar – auch Angaben zu möglichen Opfern konnte ein Sprecher noch nicht machen. Werden die Befürchtungen vor neuen Anschlägen wahr? 

Kurz vor dem Ende der Rettungsflüge hatten mehrere Länder eindringlich vor der Gefahr eines Terroranschlags vor dem Flughafen in Kabul gewarnt, der letzten Bastion des Westens in Afghanistan, wo noch immer Tausende vor den Toren auf ihre Ausreise hoffen. Die meisten wohl vergebens.

Großbritannien zeigte sich angesichts der "unmittelbaren und ernsthaften" Gefahr eines Anschlags alarmiert, der Staatssekretär für die Streitkräfte nannte die Lage "sehr ernst". Die USA forderten ihre Staatsbürger auf, das Gelände um den Airport "sofort" zu verlassen. "Wir befinden uns jetzt in der sicherlich hektischsten, in der gefährlichsten, in der sensibelsten Phase", sagte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) am Donnerstag mit Blick auf Terrordrohungen, die "sich massiv verschärft haben". 

Die Bundeswehr könnte ihre Luftbrücke schon am Donnerstag beenden, berichteten Medien – und es damit den Niederlanden gleichtun. Frankreich fliegt spätestens am Freitagfrüh zum letzten Mal schutzbedürftige Afghanen aus. 

Wer oder was steckt hinter der Anschlagsgefahr?

Was die Regierungen zu ihren Befürchtungen veranlasst, ist unklar – Details zu konkreten Anschlagsplänen sind bisher nicht bekannt. Wer die Sorgen befeuert hingegen schon – US-Präsident Joe Biden hat diese klar verortet: "Je länger wir bleiben, desto größer wird die Gefahr eines Angriffs durch die Terrorgruppe ISIS-K", sagte Joe Biden bereits am Dienstag. 

Der Feind des Feindes

Die Rede ist von den Kämpfern des ISKP – des "Islamischen Staates Provinz Khorasan", ein Ableger der gefürchteten Terrorschlächter aus Syrien und dem Irak. Bis vor wenigen Wochen, als die Taliban das ganze Land unter ihre Kontrolle gebracht haben, gehörte der ISKP zu den anderen Gruppen von Dschihadisten, die gegen die gewählte Regierung in Kabul kämpften – mit noch harscheren und brutaleren Mitteln als die Taliban.

Genau genommen war ihr Kampf einer gegen alles und jeden: gegen die Taliban, gegen die Zentralregierung, gegen die afghanische Bevölkerung. Ihre bevorzugte Waffe ist der Selbstmordanschlag, ihre Ziele sind Aktivisten, Regierungsangestellte und Minderheiten wie Schiiten; Anhänger der zweiten großen Strömung im Islam.

Die Aufständischengruppe ist seit Mitte 2014 in Afghanistan aktiv. Zwischen 2000 und 4000 Kämpfer hatte der ISKP zu Hochzeiten. 2019 gab es Zellen in vielen östlichen Provinzen des Landes sowie in den Großstädten. Die Mitglieder und Chefs waren und sind zum überwiegenden Teil abtrünnige Taliban aus Pakistan.

In jüngerer Zeit haben sich auch radikalisierte Mittelschichtsterroristen dem Islamischen Staat angeschlossen. Unterstützung sollen sie angeblich auch von Teilen des afghanischen Geheimdienstes bekommen – in einer Art gemeinsamen Kampf gegen die Taliban. Die beiden Islamistengruppen haben jahrelang blutig um die Vorherrschaft des Aufstands gegen die vom Westen unterstützte Regierung gekämpft.

Ein Kampf um die Vormachtstellung

Der Kampf um die Vorherrschaft, der sich abzeichnet, macht die Lage so volatil: Der ISKP könnte Morgenluft wittern und das Chaos am Flughafen von Kabul für ein Attentat nutzen – es wäre eine Botschaft an die Welt, aber auch eine Blamage für die Taliban, weil sie ihre Sicherheitsgarantien nicht durchsetzen könnten. 

Hauptziel der Taliban sei derzeit die Sicherung ihrer "Vormachtstellung", sagte die Sicherheitsexpertin Florence Gaub vom EUISS European Union Institute for Security Studies am Dienstag zum stern. Es sei daher "eine Art Power-Theater" zu erwarten, in dem die militanten Islamisten sich als "Besieger zweier Weltmächte darstellen werden, die die wahre afghanische Gesellschaft vertreten." 

Doch: Auch die Taliban könnten nicht ganz Afghanistan kontrollieren. "Mittelfristig ist durchaus vorstellbar, dass der Islamische Staat ein Problem werden könnte", schlussfolgert Sicherheitsexpertin Gaub daraus. Es könnte ein Vakuum entstehen, in dem der IS sich ausbreiten könne, zumal der IS "ideologisch nicht mit den Taliban auf einer Wellenlänge liegt." 

Die "abtrünnigen" Taliban

Obwohl es sich sowohl beim IS als auch bei den Taliban um sunnitische Extremisten handelt, bestehen zwischen beiden Gruppen Differenzen in religiösen und strategischen Fragen. In Erklärungen des IS wurden die Taliban als "Abtrünnige" bezeichnet. Beide Gruppen führten auch blutige Kämpfe gegeneinander, aus denen die Taliban weitgehend als Sieger hervorgingen.

Der IS übte auch scharfe Kritik an dem im Februar 2020 geschlossenen Abkommen der Taliban mit den USA, in dem Washington einen vollständigen Truppenabzug aus Afghanistan zusicherte. Die Taliban hätten damit die Ziele des Dschihad verraten, erklärte der IS. Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul erhielten die Islamisten Glückwünsche von verschiedenen dschihadistischen Gruppen – nicht aber vom IS, der ankündigte, seinen Kampf fortzusetzen. 

Evakuierung aus Kabul: Reza Payam berichtet von der dramatischen Rettungsaktion
Evakuierung aus Kabul: Reza Payam berichtet von der dramatischen Rettungsaktion
© Getty Images
Schüsse am Airport, gestrandet in Katar: Afghane berichtet von dramatischer Evakuierung

Wie der ISKP seine ideologischen Kämpfe bisher ausgetragen ist, bereitet Anlass zur Sorge: Den Terroristen werden einige der blutigsten Anschläge der vergangenen Jahre in Afghanistan und Pakistan zur Last gelegt. Dabei wurden Zivilisten in Moscheen, Krankenhäusern und an anderen öffentlichen Orten getötet. Vor allem im Visier der Extremisten: Muslime, die sie als "Ketzer" betrachten, insbesondere Schiiten.

Im August 2019 bekannten sie sich etwa zu einem Angriff auf Schiiten bei einer Hochzeit in Kabul, bei dem 91 Menschen getötet wurden. Die Gruppe wird auch hinter einem Anschlag im Mai 2020 auf eine Entbindungsstation in der afghanischen Hauptstadt vermutet, bei dem 25 Menschen getötet wurden, unter ihnen Neugeborene, Mütter und Krankenschwestern. Auch verübten sie regelmäßig Massaker an Dorfbewohnern. Bislang ist es der Gruppe aber nicht gelungen, größere Gebiete in Afghanistan unter ihre Kontrolle zu bringen.

Womöglich sieht der ISKP nun seine Zeit gekommen.

Quellen: "Axios", CNN, "The New York Times""The Guardian", mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP

fs