Ein grässliches Massaker an 30 Menschen in Rio de Janeiro wühlt die Brasilianer auf. Die Auswirkungen bekommt zusehends auch Staatschef Luiz Inàcio Lula da Silva zu spüren, der in die Schusslinie der Kritik geraten ist. "Der Staat bietet den Bürgern nicht die geringsten Sicherheitsvorkehrungen. Wie soll er das auch, wenn er nicht einmal die eigene Polizei unter Kontrolle halten kann", meint der angesehene Anthropologe und Schriftsteller Gilberto Velho. Eine mutmaßlich von Polizisten gebildete Todesschwadron metzelte am vergangenen Donnerstag von zwei Autos aus wahllos Zivilisten, darunter drei Kinder, nieder. Mindestens elf Tatverdächtige Polizisten wurden bis Mittwoch festgenommen.
"Empörter" Präsident Lula
Ein "empörter und verzweifelter" Lula, so ein ranghoher Beamter, befürchtet nach Meinung der Zeitung "Folha de Sao Paulo" nun, dass sein bislang gutes Image im Ausland ausgerechnet im Bereich der Menschenrechte tiefe Kratzer davontragen könnte. Für den brasilianischen Soziologen Ignacio Cano steht gar "die Macht des Staates auf dem Spiel". Die Attentäter hätten ihre Opfer wahllos erschossen, um Terror zu verbreiten und den Staat herauszufordern.
Lula ordnete zwar die Entsendung von 400 bis 600 Elite-Polizisten in die Stadt am Zuckerhut an. Aber vielen ist das zu wenig. Der Präsident hätte nach Rio reisen und den Angehörigen der Opfer persönlich seine Solidarität aussprechen müssen, meinte der Rapper und Menschenrechtler Def Yuri in der der Zeitschrift "Viva Favela". "Rio liegt näher als Rom. Und weinen muss er auch nicht", schrieb er in Anspielung auf Lulas Reise zum Papstbegräbnis.
Das Gemetzel geschah im Rio-Vorort Baixada Fluminense, einer der gewalttätigsten Regionen der Welt, geprägt von Armut und Gewalt. Die berüchtigten Todesschwadrone entstanden hier in den 60er Jahren. Mit stiller Billigung der damaligen Diktatur und im Auftrag von Geschäftsleuten exekutierten Polizisten in ihrer Freizeit Ladendiebe, andere Kriminelle und Straßenkinder. Heute sterben dort jährlich laut Menschenrechtsgruppen etwa 2000 Menschen gewaltsam - mehr als in vielen Kriegsgebieten.
Laut UN gewalttätigster Ort der Welt
Die Gemeinde Belford Roxo in Baixada wurde von den UN schon in den 70er Jahren als gewalttätigstes Ort der Welt bezeichnet. Besser ist es seitdem nicht geworden. "Terror ist Routine in Baixada", sagt Soziologe José Souza. Die Morde dort würden von Regierung, Medien, Menschenrechtsgruppen und selbst von den Bewohnern der Armenregion nur dann zur Kenntnis genommen, "wenn sie wie jetzt sozusagen im Großhandel erfolgen". Empörung habe auch die Tatsache ausgelöst, dass diesmal einfache Arbeiter und Kinder die Opfer waren. Morde an angeblichen Verbrechern oder "Vagabunden" würden von der Bevölkerung sogar oft gutgeheißen.