China "Heißer Herbst" im Riesenreich

Kann das Riesenreich China wirtschaftlich weiter aufsteigen, ohne seinem Volk mehr Freiheiten zu gewähren? Die Kommunisten lehnen jede Liberalisierung ab. Doch viele Chinesen idealisieren Regierungschef Wen Jiabao jetzt zum Reformer. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert.

China erlebt einen "heißen Herbst": Die Verleihung des Friedensnobelpreises an den inhaftierten Bürgerrechtler Liu Xiaobo sowie Rufe nach politischen Reformen bringen Unruhe in die Kommunistische Partei, die eigentlich einen Generationswechsel vorbereiten will. Ausgerechnet Regierungschef Wen Jiabao wird dabei zum Reformer hoch stilisiert. Chinesische Intellektuelle und ausländische Beobachter klammern sich an seine jüngsten Sätze wie "Wir müssen nicht nur wirtschaftliche Reformen, sondern auch politische Reformen fördern" oder seine Warnung, dass ohne politische Reformen die erreichten Fortschritte "verloren gehen" könnten.

In einem Interview des Nachrichtensenders CNN gab sich Wen Jiabao betont kämpferisch, so dass ihm die Asienausgabe des Magazins "Time" sogar eine Titelgeschichte widmete. Doch Yu Jie, Autor des Buches "Chinas größter Schauspieler: Wen Jiabao", ist unbeeindruckt. Die Optimisten, die den volkstümlichen Premier ("Opa Wen") für einen Reformer hielten, fielen doch nur auf die Propaganda herein, findet Yu Jie, dessen Buch nur in Hongkong erscheinen durfte. "Nur wenn Liu Xiaobo aus der Haft entlassen wird, könnte ich anfangen, einige meiner Ausführungen zu korrigieren", sagte Yu Jie der Nachrichtenagentur dpa. "Ansonsten glaube ich ihm kein Wort."

Doch der Nobelpreis, die Reformdebatte und Rufe nach "universellen Werten" sorgen für heftige Diskussionen, die die viertägige Herbstsitzung des Zentralkomitees begleiten. Die 370 Mitglieder sollen nicht nur die Nachfolge von Staats- und Parteichef Hu Jintao durch Xi Jinping, den heutigen Kronprinzen und Vizepräsidenten, vorbereiten, sondern auch über den neuen Fünf-Jahres-Plan bis 2015 beraten. Das Personalkarussell dreht sich längst. Das Gerangel hinter den Kulissen ist groß. Es geht um Macht und Einfluss. Wirtschaftlich werden die Weichen für die nächsten fünf Jahren gestellt.

Vor der Tagung zirkulierte ein Appell von 23 Parteiveteranen, die ein Ende der Zensur fordern und Wen Jiabao beim Wort nehmen möchten. "Wir wollen den Druck auf die Führung erhöhen", sagte Xiao Mo, früherer Chef des Architekturzentrums der Kunstakademie, einer der Unterzeichner. Wenn die Partei nicht dem Volk diene, müsse sie dazu gezwungen werden. "Es ist klar, dass nicht alles über Nacht reformiert werden kann", sagte Xiao Mo der dpa. "Aber wir denken, Meinungsfreiheit sollte den Anfang machen."

Die Hoffnungen in Wen Jiabao könnten aber leicht enttäuscht werden. Der Premier hatte vor allem eine ausländische Zuhörerschaft im Sinn, als er von politischen Reformen sprach. Chinas Staatsmedien berichteten nicht einmal über seine Äußerungen. Die chinesische Zeitung "Nanfang Zhoumo" beschrieb das CNN-Interview feinsinnig als eine Art Schaufensterpolitik: "Er verteidigt Chinas Ansehen auf eine Weise, die westliche Medien verstehen können." Also sagt Wen Jiabao etwa nur, was das Ausland gerne hören möchte?

Tatsache ist, dass auch der Premier unter politischen Reformen keineswegs eine Liberalisierung versteht, sondern lediglich eine Stärkung der innerparteilichen Debatten. In der Ideologie der Kommunisten befindet sich das Land ohnehin erst in der "Frühphase des Sozialismus" - viel zu früh für eine demokratische Mitsprache seiner Bürger. Wen Jiabao sprach selbst einmal von "100 Jahren", die vorher noch ins Land gehen müssten.

Das hindert die Kommunisten keineswegs daran, ständig selbst von "Demokratie" zu sprechen. In seiner Rede auf dem letzten Parteitag 2007 benutzte Parteichef Hu Jintao das Wort sogar 60 Mal. Vor der Tagung des Zentralkomitees war jetzt von "Demokratie" aber nicht mehr die Rede - offenbar weil es im gegenwärtigen Klima von einigen vielleicht eher im westlichen Sinne aufgegriffen werden könnte.

Allzu ernst hat es Wen Jiabao in dem CNN-Interview auch nicht gemeint, als er sagte, das Volk müsse die Regierung kritisieren können. Schnell schob er hinterher: "Innerhalb des Rahmens, der durch die Verfassung und die Gesetze erlaubt ist." So steht in Artikel 35 der Verfassung zwar die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, doch wer allzu aktiv die Demokratie einfordert, verstößt gegen den absoluten Führungsanspruch der Partei in der Präambel. Das reicht allemal für eine Verurteilung wegen "Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt". Für Liu Xiaobo bedeuteten das elf Jahre Gefängnis.

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Andreas Landwehr, DPA