Not mach erfinderisch, heißt es. Ein Blick auf die derzeitigen Proteste gegen die strikten Null-Covid-Maßnahmen in China zeigt, welche Wahrheit in dem Sprichwort steckt. In einem Land, in dem die Regierung wenig von freier Meinungsäußerung geschweige denn Kritik hält, sind die Menschen gezwungen, auf subtilere Methoden zurückzugreifen. Bilder aus Shanghai zeigen Frauen und Männer, die bei einer Mahnwache weiße Papiere als stummen Protest gegen die Zensur hochhielten. In Peking demonstrierten Studierende mit einer aufgemalten Gleichung, die die Worte "freier Mann" symbolisiert.
Ein Hochhausbrand in Urumqi in der Xinjiang-Region, bei dem mehrere Menschen ums Leben kamen, hatte den seit Monaten schwelenden Unmut in der chinesischen Bevölkerung zum Überlaufen gebracht. Viele hegen den Verdacht, dass die strikten Corona-Maßnahmen die Rettung der Bewohner behindert haben. Aus Frust und Wut über die Ausgangssperren, Zwangsquarantäne, Massentests und die ständige Kontrolle mit Covid-Apps gehen seit fast einer Woche Menschen in verschiedenen Städten auf die Straßen – am Wochenende erreichten die Proteste ihren Höhepunkt.
Es sind die größten Demonstrationen in der Volksrepublik seit 1989. Und es sind auch die kreativen und oft ironischen Botschaften, die die aufgeflammten Proteste so besonders machen.
Mit Kreativität und Ironie gegen Chinas Null-Covid-Politik
Seit dem Wochenende trendet auf Twitter der Hashtag #A4Revolution. "A4" bezieht sich auf das Symbol, das schon jetzt zum bekanntesten der Proteste geworden ist: ein leeres, weißes Blatte Papier im DIN-A4-Format. Es steht für Zensur, für das "Gefühl, keine Stimme zu haben, aber in der Masse trotzdem mächtig zu sein", wie Teilnehmende der Demonstrationen der "New York Times" berichten. In Shanghai, Peking und in der Sonderverwaltungszone Hongkong tragen die Menschen die weißen Blätter wie Schutzschilder vor sich her. Viele gedenken damit auch der Opfer des Feuers in Urumqi, denn Weiß gilt in China als typische Farbe auf Beerdigungen.

Einige wagen es sogar, Texte und Symbole auf ihre Blätter zu schreiben. In Peking hielten Studierende der Eliteuniversität Tsinghua Schilder in die Luft, auf denen die Gleichung des russischen Physikers Alexander Friedmann prangte – die die Expansion des Universums beschreibt – und dessen Nachname, wie die Worte "freier Mann" ("free(d) man") klingen. Ein Demonstrierender zeigte ein Ausrufezeichen auf rotem Grund: das Zeichen, das auf der sozialen Plattform "WeChat" verwendet wird, wenn eine Nachricht nicht zugestellt werden kann.
Andere sind mutig genug, die Stimme zu erheben. "Hebt den Lockdown auf" und "Wir wollen keine PCR-Tests, wir wollen Freiheit", skandierten die Demonstrierenden in Peking. Als die Polizei die Menge anwies, damit aufzuhören, forderten sie stattdessen auf sarkastische Art "Mehr Lockdowns!" und "Ich möchte Covid-Tests machen".
Auch in den staatlich regulierten sozialen Netzwerken, wo jegliche Kritik gegen die Regierung umgehend gelöscht und geahndet wird, finden vor allem jüngere Chinesinnen und Chinesen neue Wege um ihren Unmut zu äußern. Ganz nach dem Motto "Falsch-positiv" überfluten sie das Netz mit Posts voller chinesischer Schriftzeichen für "ja", "gut" und "richtig", um sich auf ironische Weise der Zensur zu entziehen.
Wo Attraktionen von Weltrang verrotten

Selbst Alpakas werden zum Protest-Symbol
Der kreative und für China ungewöhnlich breite Protest offenbart nicht nur den Unmut über die seit knapp drei Jahren andauernden Beschränkungen, sondern auch eine tiefe Unzufriedenheit mit dem politischen System. "Für die Leute ist der Siedepunkt erreicht, weil es keinen klaren Weg gibt, die Null-Covid-Politik zu beenden", sagt Alfred Wu Muluan, ein Experte für chinesische Politik an der National University of Singapore (NUS) der AFP-Nachrichtenagentur. "Die Menschen sehen sich gezwungen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen", analysiert Yasheng Huang vom Massachusetts Institute of Technology auf Twitter.
Eine Szene, die in chinesischen sozialen Netzwerken besonders für Aufsehen sorgte, war das Bild von einer Frau, die drei Alpakas an der Leine über die "Urumqi Straße" in Shanghai führte. Jeremy Goldkorn, Chefredakteur des unabhängigen Mediums "The China Project", teilte das Bild auf Twitter mit der Überschrift "The grass mud horse lives!", zu Deutsch "Das Grasschlammpferd lebt!". Dazu muss man wissen: "Cǎonímǎ", das chinesische Wort für "Grasschlammpferd" – eine Art Alpaka – wird im Grunde als Beleidigung benutzt und bedeutet übersetzt "F*** deine Mutter".
Als die chinesische Regierung im Jahr 2009 damit begann, das Internet stärker zu regulieren, posteten die Menschen auf der Plattform "Baidu" Bilder von Alpakas oder "Grasschlammpferden", um ihrem Frust über die Zensur Ausdruck zu verleihen.
Regierung reagiert mit erhöhter Polizeipräsenz
Noch ist unklar, wie sich die Proteste weiter entwicklen und welche Folgen sie möglicherweise für die Null-Covid-Politik haben könnten. Was die chinesische Parteiführung besonders erschrecken dürfte, ist die Wut der Bevölkerung auf die Führungsriege. "Xi Jinping, tritt zurück! Nieder mit der Kommunistischen Partei", skandierten einige der Demonstrierenden in Shanghai und griffen damit den Staats- und Parteichef direkt an. Das weckt Erinnerungen an die pro-demokratischen Massenkundgebungen 1989, die vom Militär brutal niedergeschlagen wurden.
Doch so weit will es die Regierung gar nicht erst kommen lassen.
Am Montagabend verhinderte ein großes Polizeiaufgebot bereits weitere Demonstrationen in mehreren Großstädten, auch die Zensur im Netz wurde verschärft. In Peking und in Metropolen wie Shanghai, Guangzhou und Hangzhou waren Scharen von Sicherheitskräfte auf den Straßen unterwegs. Vielfach wurden Passanten angehalten, mussten sich ausweisen und ihre Handys zeigen, die auf verdächtige Inhalte oder Programme wie Tunneldienste (VPN) zur Umgehung der chinesischen Zensur untersucht wurden.
Für viele Chinesinnen und Chinesen bedeutet das künftig noch vorsichtiger zu sein und ihre Botschaften besser zu verschleiern. Gleichzeitig stellen die kreativen und oft subtilen Protestformen die Polizei vor die Schwierigkeit, von Fall zu Fall zu entscheiden, welche Aktionen die Grenze überschreiten.
"Wovor sollten wir Angst haben?", fragt ein Mann Passanten auf der Straße in Shanghai, die die Szene mit ihren Handys filmen. Über dem Kopf hält er eine einzelne Blume.
Quellen: "BBC", "Guardian", "NY Times", mit Twitter und AFP-Material