Mirzaman war der Letzte seiner Familie. Alle anderen hatten das Dorf südlich von Kabul längst verlassen. Selbst seine beiden Frauen und die jüngsten der sechs Kinder hatte der ungefähr 50-Jährige vor Wochen nach Pakistan in Sicherheit geschickt. Nur Mirzaman selbst wollte nicht gehen. »Wer sollte auf meine Schafe Acht geben?«, fragte er, der in seiner braunen Tracht auf dem Boden eines Lagers kauerte und dessen Name übersetzt »Herr der Zeit« bedeutet. Die Schafe waren alles, was er je besessen, was seine Familie durch alle Kriege gebracht und was ihn zu einem geachteten Mann gemacht hatte. »Wem sollte ich sie anvertrauen? Es war doch niemand mehr da.«
Doch die Gerüchte, die wie der staubschwere Wind übers Land wehten, dass ein noch furchtbarerer Krieg kommen werde als alle schon erlebten, dass amerikanische Flugzeuge das Land bombardieren und, schlimmer noch, die Mehlkonvois der ausländischen Hilfsorganisationen ausbleiben würden - diese Gerüchte überzeugten auch Mirzaman, dass es nun Zeit war zu gehen.
Von der Herde hatte ohnehin nur die Hälfte die Jahre der Dürre überlebt, Mirzaman scheuchte sie in alle Himmelsrichtungen und zog los, ohne sich noch einmal umzuschauen. Zog drei Tage lang durch die Berge Richtung Osten im anschwellenden Strom der Fliehenden. Niemand hielt sie auf. Die Taliban, die sich nie um die Versorgung der Menschen mit Nahrung, Medizin oder Schulen gekümmert haben, lassen jeden ziehen. Sie sorgen sich, scheint es, um nichts außer um ihren Kampf zu Gottes Wohlgefallen, obwohl kaum ein Land der Erde gottverlassener sein könnte als das ihre. Und so erreichte Mirzaman an einem der letzten Septembertage das Dorf Chinar südlich des Khyber-Passes an der pakistanischen Grenze.
Auch hier hielt niemand ihn, hält niemand die Tausenden auf, die seit Wochen jeden Tag von den Bergen herabsteigen - und sich jählings zwischen Shampoo-Kisten, Reifenlagern und Teppichrollen wiederfinden. Die Welt mag gebannt den aufziehenden Krieg verfolgen. Die UN mögen vor einer Flüchtlingskatastrophe gigantischen Ausmaßes warnen und Pakistan offiziell verkünden, seine Grenze zu Afghanistan geschlossen zu haben - im Zentrum des Geschehens herrscht lärmende, unaufgeregte Geschäftigkeit: Dutzende Trucks werden entladen, Kamele und Maultierkarawanen beladen, Träger schleppen Kisten mit Videorecordern, Schuhcreme, Pampers und Ölkanistern umher, hieven Klimaanlagen und Motoren mit Tragestangen auf Pick-ups. Selbst Kartons mit gezuckerten Biscuits kommen aus Afghanistan an, während die Hilfswerke Mehlkonvois in die Gegenrichtung schicken.
»Land der Stämme«
Die Grenze ist nicht mehr als eine Linie. Denn hier, mehrere Hundert Kilometer lang und bis zu 100 Kilometer hinein nach Pakistan, liegt das »Land der Stämme«. In das sich jenseits der wenigen Überlandrouten weder Polizei noch Militär wagen. Hier werden jährlich Waren im Wert von vielen Millionen Dollar am pakistanischen Zoll vorbeigeschmuggelt, hier laufen die Stränge des Drogen- und Waffenhandels zusammen, und nun kommen auch noch die Flüchtlinge dazu: Mehr als 200 Pick-ups warten im Talkessel, umgerechnet rund 15 Mark kostet die Passage. Ein Vermögen für die meisten, die nicht mehr besitzen, als sie am Leib tragen. Und doch verlässt ein Wagen nach dem anderen das Tal, die Ladefläche gefüllt mit bis zu 20 Flüchtlingen. Selten weint jemand, eine Frau hebt ihre Burka, um sich zu übergeben, selbst die Kinder sind still und die Gesichter der Männer versteinert.
Durch ein Flusstal und über eine Bergkette windet sich der Weg bis zum Ort Bara; 70 Kilometer, auf denen dieser Weg die Reiche dreier Stämme durchmisst. Jedes davon hat seine präzisen Grenzen, an denen die Flüchtlinge umsteigen müssen, und seine Tributstationen, an denen Schwerbewaffnete unter Zeltbahnen lagern und kassieren. Ein so glänzendes Geschäft ist der Flüchtlingstransport, dass die Stammesführer der Sacha-Chel am Pistenbeginn jeden Pick-up registrieren, um Auswärtige fern zu halten, und Wartenummern vergeben wie auf einer Behörde.
Es ist eine eigene Welt, die hier überlebt hat. Den Taliban in islamischem Rigorismus in nichts nachstehend, strikt gesperrt für Ausländer, kaum zugänglich für Pakistanis. Nur auf Umwegen, in Stammeskleidung und Dreiwochenbart, sind wir an allen Checkpoints der Armee vorbeigeschmuggelt worden und können uns auch im Stammesland nur mit Mittelsmännern von Clangebiet zu Clangebiet hangeln.
Granatwerfer und schwere Maschinengewehre
Wo ein Mann selbst das eigene Dorf kaum ohne Kalaschnikow verlässt, ist keine gute Gegend für Fremde und schon gar nicht für Ausländer. Hier leben die Menschen nicht in Häusern, sondern in Festungen: meterhoch ummauerten Anwesen von der Größe halber Fußballfelder, gesichert immer mit Stahltoren, oft mit Granatwerfern und schweren Maschinengewehren, die bei Bedarf auf die Dächer gewuchtet werden - falls doch mal Polizei anrücken sollte oder, was wahrscheinlicher ist, eine Vendetta mit einem anderen Clan ausgetragen werden muss. Nur nach diskreten Absprachen und Warten öffnet sich eines der Stahltore.
Inmitten der wüstentrockenen Berge tut sich ein kleiner Garten auf, unter einem Baum lagern die Männer auf breiten Liegen: aus Afghanistan geflohene Freunde des Hausherren, Kameltreiber und ein langbärtiger Kämpfer auf dem Weg in die Gegenrichtung, der nun ein Problem hat. Denn einerseits sind wir »kufr«, Ungläubige - andererseits unantastbare Gäste, und so verlegt er sich darauf, vom Dschihad zu schwärmen, der nun ausgerufen sei, und davon, dass die Amerikaner »uns vielleicht töten, aber nicht besiegen können«.
Keiner Macht ist es je gelungen, diese Gegend zu erobern. Die Briten zogen nach mehreren verheerenden Niederlagen 1893 zwar eine Grenze, überließen aber die Stämme, verteilt auf sieben als Agencys bezeichnete Kantone, sich selbst und den Maliks, ihren Führern. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
»Hier hatte bin Laden seinen Sitz«
Von hier aus begann vor 20 Jahren der Kampf der Mudschaheddin gegen die sowjetischen Besatzer. Hier waren ihre Trainingslager, hier hatte bin Laden seinen Sitz, als er mit US-Hilfe islamische Freiwillige aus der ganzen arabischen Welt rekrutierte, »und genau hierhin werden sich viele Taliban-Kämpfer im Fall einer Niederlage zurückziehen«, vermutet Brahimullah Yusufzai. Er ist einer der besten Afghanistan-Kenner unter Pakistans Journalisten, hat bin Laden und Taliban-Führer Mullah Omar interviewt: »Sie kennen das Terrain, außerdem können weder die Amerikaner hier einmarschieren noch die pakistanische Armee, ohne einen Bürgerkrieg zu riskieren.« Solange Pakistans an die Macht geputschte Militärregierung vor allem daran interessiert war, islamistische Milizen zu fördern für den Untergrundkampf um den indisch regierten Teil Kaschmirs, waren die Taliban und die engen Verbindungen vieler Stämme zu ihnen nützlich.
Doch nun sind die Stämme ein unberechenbarer Faktor geworden: Globale Lage und eigene Geschäfte werden verwoben auf den Dschirgas, jenen Versammlungen der Clanführer und Ältesten, die fast täglich stattfinden. Sollen wir aufseiten der Taliban kämpfen? Uns von Pakistans Generälen kaufen lassen?
Dem Stamm der Adam-Chel wollte die Regierung das Waffengeschäft verbieten. Dabei lebt südlich von Peshawar ihr ganzes Dorf, Darra, davon. In den Lärm Dutzender Schmieden und Manufakturen mischt sich hier der Widerhall von Probeschüssen, von der Beretta bis zur Kalaschnikow ist alles erhältlich. Und das soll auch so bleiben, befindet ein Feinmechaniker für halbautomatische Waffen, und ein Mann an der Fräse für Gewehrläufe pflichtet bei: »Sonst rufen wir hier nämlich auch den Dschihad aus!« Die Schinwari wiederum, deren Stamm auf afghanischer und pakistanischer Seite lebt, haben einen Hilferuf der Taliban erhalten, und die Dschirga hat entschieden: Hilfe gibt es nur unter der Bedingung, dass sie wieder Opium anbauen dürfen.
Opiumproduzent Nummer eins
Denn damit sind viele hier schon reich geworden: Während des Guerillakriegs der Mudschaheddin sahen CIA und Pakistans Geheimdienst ISI großzügig darüber hinweg, dass ihre Schützlinge das Grenzgebiet zu einem der Weltzentren des Heroinhandels machten. Das blieb es auch nach Abzug der Sowjets. Afghanistan wurde in den Neunzigern zum Opiumproduzenten Nummer eins - bis die Taliban selbst den Anbau auf Druck der USA und Pakistans stoppten. UN-
Drogenexperten bescheinigten den Taliban vergangenes Jahr, die Ernte von mehr als 3000 Tonnen beinahe auf null gebracht zu
haben. Die Opiumpreise schossen in die Höhe - um seit Mitte September wieder rapide um rund ein Drittel zu fallen, denn in
Kriegszeiten blühen die Mohnfelder. Es ist immer der gleiche Handel: Die Stämme mischen sich nicht in die Politik ein und dürfen dafür ihren Geschäften nachgehen mit allem, was andernorts verboten ist oder versteuert werden müsste.
In diesem Kreislauf ist die Route von Chinar nach Bara einer der Nervenstränge. Sobald die Piste sich in engen Serpentinen die Hänge hinaufschlängelt, kommen die Wagen nur noch im Slalom vorbei an den Maultierkarawanen, vom Morgengrauen bis zur Dämmerung ist Rush- Hour. Und so wurde eine der größten Dschirgas in den vergangenen Monaten nicht etwa wegen des Kampfes der USA gegen die Taliban einberufen - sondern wegen jenes Streits der Malikdin-Chel gegen die Sacha-Chel. Es ging um Wegezoll auf dieser selbst gebauten Passstraße und kostete fast 80 Menschenleben. Am 18. August trafen sich Hunderte zur Dschirga an der Stammesgrenze und einigten sich darauf, dass die Einkünfte fortan halbiert würden - gerade noch rechtzeitig, bevor das Flüchtlingsgeschäft einsetzte.
Synonym in ganz Pakistan
In Bara endet der Weg, für die Flüchtlinge ebenso wie für die wieder auf Trucks umgeladenen Waren. Die Stadt am Rand der Stammeszone ist ein einziger, riesiger Markt, der Name wurde Synonym in ganz Pakistan: »Bara-Märkte« heißen in Lahore, Islamabad und Karachi die halblegalen Basare für Geschmuggeltes.
In Baras Zentrum allerdings liegen die Geschäfte für Kühlschränke einträchtig neben Läden für Opium, Haschisch und Handfeuerwaffen, zieht der markante Cannabis-Rauch über den Marktplatz, wo die Verkäufer mangels Platz ihre
Kalaschnikows in die dürren Bäume hängen. Dazwischen stehen die gerade angekommenen Flüchtlinge in Gruppen an den Straßenrändern. Erschöpft, hungrig, versuchen sie weiterzukommen zu Verwandten unter den zwei Millionen Afghanen, die oft schon seit Jahren in den Flüchtlingslagern leben. In Peshawar, der Metropole Nordwestpakistans, lagern Hunderte vor den Krankenhäusern, wo nur die schwersten Fälle noch Aufnahme finden.
»Noch ein paar Stunden hat sie«
Mehr als die Hälfte der Patienten in der Kinderabteilung des Lady Reading Hospital, Peshawars größten Krankenhauses noch aus britischen Kolonialzeiten, sind Afghanen. In ruhigen Zeiten hatten die Schwestern Mickymäuse auf die Türen der Zimmer gemalt, hinter denen jetzt halb verhungerte Kinder an Polio, Tetanus und Tuberkulose, selbst an Masern sterben. Ein etwa elfjähriges Mädchen mit Malaria atmet stoßweise, das Gesicht schmerzverzerrt. Sie wird die Nächste sein in der Strichliste auf der kleinen Kreidetafel neben der Tür. »Noch ein paar Stunden hat sie«, sagt die Kinderärztin Dr. Asmat Khattak, hebt die Schultern und rechnet durch: »Blutkonserven haben wir noch für ein paar Tage, Medikamente für zwei Wochen, und in einem Monat sind wir einfach pleite, wenn keine Hilfe kommt.«
Aus dem Süden, rund um die grenznahe Stadt Quetta, werden immer mehr Fälle von Kongo-Fieber unter den Flüchtlingen gemeldet, verursacht durch ein Ebola-ähnliches Virus, das die Opfer binnen Tagen verbluten lässt. »Wir befürchten das Schlimmste«, zitiert die Zeitung »Khyber-Mail« einen Arzt aus Quetta: »Wir haben zehn Quarantäne-Betten. Die sind voll. Und wir haben nicht die leiseste Ahnung, wie schnell die Flüchtlinge das Virus weiterverbreiten.«
So gesehen hat Mirzaman, der geflohene Schäfer, noch Glück gehabt. Er hat es geschafft bis zu dem kleinen Flüchtlingslager, wo schon seine Frauen und Kinder in der Lehmhütte eines Cousins Unterschlupf gefunden haben. Es gibt zu essen, Wasser, in ein paar Monaten soll er sogar eine Glühbirne und eine Stromleitung in seine Lehmhütte bekommen. Nur der Gedanke an seine Schafe lasse ihn nicht zur Ruhe kommen, sagt er.
Herren der verschlungenen Handelsströme
Das Lager steht auf dem Land eines Großgrundbesitzers vom mächtigen Stamm der Afridi. Der sieht es als islamische Pflicht an zu helfen - und lässt sich die Tugend vergelten, indem die Flüchtlinge als Pächter auf seinen Feldern arbeiten. Sein Schwiegersohn Javal wiederum ist einer der Herren der verschlungenen Handelsströme durchs Stammesland, die auf verschiedenen Wegen hier ankommen: Die meisten Schmuggelwaren verlassen ganz legal Pakistan, um offiziell nach Afghanistan exportiert zu werden - darunter selbst Waren wie Fernseher, Videorecorder und Rasierklingen, die unverkäuflich sind dort, wo Fernseher verboten und Bärte Pflicht sind. In Wirklichkeit drehen sie auch nur eine kurze Runde, um wieder zurück nach Pakistan zu kommen. Ohne die horrenden Zölle auf offiziell eingeführte Waren sind sie weiter unschlagbar preisgünstig. Ausweichrouten führen über Iran und quer durch Afghanistan.
Von einem kleinen Laden in Bara aus dirigiert Javal seine Flotte von Lastwagen, Maultieren und Kamelen. Dass er ungern darüber spricht, mag daran liegen, dass seine Geschäfte ja eigentlich illegal sind. Dass er es doch tut, an seinem Stolz darauf. Denn niemand kann diese Geschäfte stoppen, nicht einmal ein Krieg: »Gerade jetzt läuft es blendend, die wollen unsere Unterstützung - also lassen sie uns völlig in Ruhe.« Aber was, wenn die Amerikaner die Straßen bombardieren? »Dann laden wir gänzlich um auf Maultiere.«
Nur eines wäre ernsthaft geschäftsschädigend: Frieden. Wenn Afghanistan ein normaler Staat würde mit Steuern, Zöllnern und richtigen Grenzen. »Dann wären wir am Ende. Aber das«, sagt Javal und macht eine Pause, während vor der Tür die zu Menschentrauben zusammengepferchten Flüchtlinge im Minutentakt vorbeirauschen »das wird bestimmt nie passieren.«