"Kein Wind heute", sagt Emmanuel Clermont, und er wird es an diesem Tag noch häufiger sagen, leicht verwundert, ist ja schließlich schon Oktober. Seit 15 Jahren arbeitet Clermont, gebürtig aus Lille, im nordfranzösischen Dünkirchen als Touristenführer. Er erzählt von Ludwig XIV, der die Stadt an der Nordseeküste einst den Engländern abkaufte und sie gemeinsam mit seinem Baumeister Sébastien Le Prestre de Vauban in einen der schönsten Orte Frankreichs verwandeln wollte – ein Attribut, das heute im Land kaum noch jemand mit Dünkirchen verbinden dürfte.
Die Dünkirchener wissen: Die See ist rau und das Leben kurz
Belagerungen und Kriege prägen die Vergangenheit der einstigen Hafenfestung. Im Zweiten Weltkrieg hinterließen die Deutschen ein Schlachtfeld, Dünkirchen wurde zu achtzig Prozent zerstört. Militärgeschichte gehört zu Emmanuel Clermonts Spezialgebieten, doch wenn er sich mit seinen Gästen auf den Weg macht, führt er sie als erstes zum Denkmal von Jean Bart. Der imposante Freibeuter im Dienste des Königs ist seit dem 17. Jahrhundert die berühmteste Persönlichkeit der Stadt. "Im Grunde fühlen sich bis heute alle Dünkirchenr als seine Töchter und Söhne", sagt Clermont. Unerschrockene Freigeister, die wüssten, dass die See rau sei und das Leben kurz. Darum gehe es in Dünkirchen auch so gesellig zu. Nirgendwo, nicht mal in Lille, seien die Menschen so unkompliziert wie hier, versichert Clermont.
Vielleicht lässt sich Dünkirchen am besten so beschreiben: Man stelle sich einen Ort wie Bremerhaven vor, bevölkert mit frohgemuten Rheinländern. Der Karneval beginnt in Frankreichs stets frischer Küstenstadt schon im Januar, drei Monate lang wird das riesige Spektakel in verschiedenen Vierteln dann jedes Wochenende gefeiert. Zu den speziellen Gepflogenheiten gehört – angeblich –, dass man sein Kostüm, den "clet’che", nicht wechselt und möglichst auch nicht wäscht. Höhepunkt des Ganzen: Der Herings-Weitwurf vom Rathausbalkon. Tausende von Touristen zieht es jedes Jahr ins rund 87.000 Einwohner große Dünkirchen. Und vielleicht auch deshalb hat man sich in der Stadt längst ein neues Fest ausgedacht.
Am breiten Sandstrand spannt sich an diesem Tag ein strahlend blauer Himmel über das Meer, klare Sicht bis Belgien. Im Hintergrund liegt das vom Krieg weniger massakrierte Viertel Malo-Les-Bains mit seinen hinreißend verzierten Jugendstil-Villen, am Rand der eigentlich so beschaulichen Promenade dröhnt Musik aus dem kastenförmigen Kursaal: Es ist der 4. Oktober – die jährliche Austern-Party geht los.
Austern machen durstig
Der Eintritt ist gratis, die Lautstärke beachtlich. An meterlangen Tischen mit blauen und weißen Tischdecken wird das weiche Muschelfleisch aus der Schale geschlürft – ein halbes Dutzend gibt es ab 13,50 Euro. Dazu reichlich Champagner oder Muscadet. "Austern sind salzig wie das Meer", sagt Thierry. "Und das Meer macht durstig!“ Der 38-jährige Elektrofacharbeiter ist mit seiner Firma hier, Ehrensache, jedes Jahr. Später wird er mit seiner Familie wiederkommen. "Dann wird getanzt bis zum Umfallen!"
Rund 1800 Sitzplätze gibt es im Festsaal, dahinter eine ähnlich große Fläche für alle, die nach Wein und Muscheln dringend ein Bier brauchen. Die Tische werden in mehreren Schichten vergeben, drei Tage lang. Austernzüchter Patrick Kervadec und seine Freunde haben ihre Ware mit einem LKW aus der Bretagne hochgefahren. Sieben Tonnen, die nun von den Männern per Hand mit einem Messer geöffnet werden, ehe sie auf den Tellern landen. Wie viele Austern verträgt man am Tag? "In der Bretagne locker 24!" ruft Kervadec. "Ihr könnt in Deutschland ruhig mehr Austern essen, wir trinken ja auch euer Bier. Hier, bitte schön."

"Foire aux Huitres" – "Austernmesse" heißt das dreitägige Gelage – aber um verschiedene Jahrgänge, Sorten oder Qualitätsstufen geht es nicht. "Wir essen einfach zusammen und feiern eine große Party", erklärt Kervadecs Kumpel Régis das Konzept. Wer sich von einer Handvoll Muscheln nicht ausreichend für den langen Abend gerüstet fühlt, kann auf andere Spezialitäten lokaler Anbieter ausweichen: Käse, Crêpes, Wurstplatte oder gebratener Mais, nicht nur für Veganer.
Seit nunmehr 38 Jahren gibt es das Austernfest und in Dünkirchen ist es längst zu einer Institution geworden, die über die Stadt hinaus Verbindungen schafft. Ausgedacht haben es sich ein paar Freunde nach einer Bootstour in der Bretagne. Schnell wurde ein Verein daraus: "La Bouée Bleue", der "Blaue Rettungsring", gibt seine Einnahmen an verschiedene ehrenamtliche Organisationen weiter – der Großteil geht an die Seenotretter und Strandwächter von "Sauveteurs en Mer".
Vereinspräsident Didier Blondez, ausgerüstet mit Walkie Talkie und Handy, sagt, Dünkirchen sei wie ein großes Dorf: Jeder kenne jeden, und man sei einfach gern beisammen. "Wir wollten etwas organisieren, das unserer Region und dem Erhalt der maritimen Kultur zugute kommt. Für die ortsübliche Miesmuschel gab es aber schon viele Veranstaltungen. Also hat man sich gesagt: 'Wir machen ein richtiges Volksfest rund um die Auster!'“

Dünkirchen ist ein moderner Wirtschaftsstandort Frankreichs
Angefangen hat es 1986 mit 250 Kilo im kleinen Kreis. Heute rechnet Blondez mit 20.000 Gästen, darunter auch Belgier, Deutsche oder Engländer. Der Freitagnachmittag ist für Betriebsfeiern vorgesehen, die Auster fungiert dann als Eisbrecher für geschäftliche Kontakte: Dünkirchen ist auch ein Wirtschaftsstandort, der sich neu erfindet. Die Region will vorbildlich werden im ökologischen Umbau der Industrie, der hier stellvertretend für andere Gegenden erarbeitet werden soll. Angenehmer Nebeneffekt für die Bewohner: Öffentliche Busse sind in der Gemeinde seit ein paar Jahren gratis, ihre Nutzung stieg dadurch von fünf auf über achtzig Prozent.
Vergangenes Jahr eröffnete in Dünkirchen außerdem eine der größten Batteriefabriken Europas, zwei weitere sollen folgen. Frankreichs Regierung will den Norden des Landes in ein führendes Zentrum für Elektromobilität verwandeln. An den Aushängen der Arbeitsvermittler kann man jetzt schon sehen, woran es dann möglicherweise mangeln wird: Fachkräfte.

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Ob das Austernfest zu der Attraktivität der Stadt beiträgt? "Es ist zumindest attraktiv, wenn man Geselligkeit schätzt, davon kann sich hier wirklich jeder überzeugen", sagt Didier Blondez. Für die Einheimischen sei das Fest vor allem der Auftakt für die Winterfeierlichkeiten. "Danach kommt noch das Wein- und Bierfest. Dann die Weihnachtsmärkte – bis endlich der berühmte Karneval losgeht." Das Walkie Talkie drängelt, Blondez muss los, gleich geht der Spielmannszug auf die Bühne. "Yech’ed mad!" ruft Blondez, "das heißt 'Prost‘ auf Bretonisch!"
Später wird im Saal eine France-Gall-Interpretin auftreten und ein Double der Sängerin Dalida. Am Tresen bereiten ein paar Frauen einen Gruppentanz vor, die Betriebsausflügler vom Nachmittag schwanken bereits leicht. Und während die Auster allmählich zur Nebensache der Party wird, sammeln Blondez’ Helfer unermüdlich Muschelschalen von den Tellern ein. Die nämlich werden gemahlen und zu Hühnerfutter verarbeitet – das Fest soll schließlich so nachhaltig wie möglich sein.