Ein brennender Bus, Jugendliche, die Brandsätze werfen, nächtliche Krawalle – aus Nordirland werden seit Tagen Bilder gesendet, von denen viele gehofft hatten, dass sie nie wieder zu sehen sind. Gut eine Generation ist das Karfreitagsabkommen her, das im April 1998 einen der blutigsten Konflikte der Nachkriegszeit in Europa beendete. Jetzt scheint er wieder aufzuflammen. Politiker in Großbritannien sind alarmiert.
Seit mehr als einer Woche explodiert Abend für Abend die Gewalt irgendwo in einer Stadt in Nordirland, beklagt die BBC, die der Lage dort eine lange Analyse widmet. Viele befürchten, dass sich die Gewalt weiter aufschaukelt.
Bus in Belfast in Brand gesteckt
In der Nacht zum Donnerstag gab es besonders schlimme Krawalle in der Provinzhauptstadt Belfast, wo Jugendliche einen Doppeldeckerbus kaperten und in Brand setzten. Der Fahrer des Busses sei zwei äußerlich unverletzt geblieben, so die BBC, aber er sei schwer schockiert. Die Attacke ereignete sich an einer Kreuzung, genau an der Grenze zwischen einem katholischen und einem protestantischen Wohnviertel.
Politiker verurteilten die Gewalt. Die Regierung des Landesteils, der zu Großbritannien gehört, veröffentlichte am Donnerstagnachmittag nach einer Sondersitzung eine Erklärung, in der die Krawalle scharf verurteilt wurden: "Zerstörung, Gewalt und die Androhung von Gewalt sind vollkommen inakzeptabel und nicht zu rechtfertigen", hieß es darin.
Nordirland wird von einer Einheitsregierung der jeweils größten Parteien von protestantisch-unionistischer und katholisch-republikanischer Seite regiert. Etwas mehr als die Hälfte der Nordiren sind mehreren Medien zufolge Protestanten, deutlich mehr als 40 Prozent Katholiken. Früher war die protestantische Mehrheit deutlich größer.
Auch das Regionalparlament kam trotz Osterpause am Donnerstag zu Beratungen zusammen. Die Stimmung ist explosiv.
Der Brexit wird für Nordirland zum großen Problem
Aber warum? Es ist eine gefährliche Mixtur aus mehreren Faktoren, aus denen sich die Gewalt speist. Die zwei wichtigsten sind die Animositäten zwischen protestantischen und katholischen Nordiren, die nie aufgehört hat, und der Brexit, dessen Folgen Nordirland besonders hart treffen.
Aktuell soll die Gewalt von protestantischen Gruppierungen ausgehen, teils mit Verbindungen zum Drogenhandel. Es sollen viele Minderjährige unter den Gewalttätern sein, teils 12 oder 13 Jahre alt. Die Randalierer werfen Brandsätze, prügeln sich mit Polizisten, schüren Angst.
Doch die Ursache vor allem als kriminelle Erscheinung abzutun, wäre zu einfach. Denn unter den Protestanten, also den Bürgern, die sich der Regierung in London gegenüber loyal fühlen, wächst der Frust wegen des Brexits. Sie haben wegen einer Sonderregelung bei der Scheidung Großbritanniens von der EU Angst, dass sich ihre Provinz immer weiter vom britischen Mutterland entfernt und fühlen sich verraten.
Durch diese Regel wurde Nordirland im Europäischen Binnenmarkt und in der Zollunion belassen, was zunächst einmal gut klingt. Denn man wollte unter allen Umständen vermeiden, dass erneut eine Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und der Republik Irland im Süden entsteht, die ja Teil der Europäischen Union ist.
Doch die Regel schafft eine neue Barriere: Denn jetzt müssen Kontrollen an den Häfen stattfinden, wenn Waren aus den anderen Teilen des Vereinigten Königreichs nach Nordirland kommen. Es gibt wegen des Brexits also eine Art von Grenze zwischen Großbritannien und Nordirland, eine seltsame Grenze mitten im eigenen Staatsgebiet. London und Belfast entfernen sich politisch weiter voneinander – für die Protestanten in Nordirland ein Graus.
Gut besuchte Beerdigung eines ehemaligen IRA-Terroristen mitten in der Corona-Pandemie
Der Brexit verstärkt somit den Hass zwischen Katholiken und Protestanten, der nie ganz aufhörte – auch, wenn das Karfreitagsabkommen der Provinz fast ein Vierteljahrhundert Frieden brachte. Und Anlässe, diesen Hass weiter anzufachen, werden immer gefunden: etwa die Beerdigung eines ehemaligen IRA-Terroristen im vergangenen Sommer, bei der die zahlreichen Trauergäste die Corona-Abstands- und Hygieneregeln missachteten – und das in einer Zeit, in der viele Menschen ihre Angehörigen wegen der Pandemie nur bei notdürftigen Trauerfeiern und im kleinsten Kreis beerdigen konnten. Dass die Teilnehmer der Prozession rechtlich nicht belangt werden, macht viele Protestanten wütend und wird auch als ein Auslöser für die aktuellen Krawalle genannt.
Es sind brutale Auseinandersetzungen, wie die in der Nacht zum Donnerstag. Allein mehr als 50 Polizisten wurden offiziellen Angaben zufolge bei Ausschreitungen in den vergangenen Tagen verletzt. Premierminister Boris Johnson zeigte sich "zutiefst besorgt". Der Weg, Differenzen zu lösen sei Dialog, nicht Gewalt oder Kriminalität, twitterte Johnson. Auch Nordirlands Regierungschefin Arlene Foster verurteilte die Gewalt: "Das ist kein Protest. Das ist Vandalismus und versuchter Mord", mahnte Foster.
Die Worte klingen hilflos, eine Beruhigung der gewaltbereiten Atmosphäre ist aktuell nicht sehr wahrscheinlich. Viele ältere Nordiren können sich noch lebhaft an den blutigen Konflikt erinnern, der Jahrzehnte dauerte und mehr als 3600 Menschen das Leben kostete, fast 50.000 wurden verletzt. Dass die Provinz erneut in einen Strudel der Gewalt abgleiten könnte, macht vielen Menschen Angst.
Quellen: BBC, "Stuttgarter Nachrichten", Nordirland-Info