Jede Nacht blutige Krawalle In Nordirland ist die Gewalt zurück – auch Kinder schleudern Brandbomben

In Belfast in Nordirland wirft ein Mann während der Dunkelheit einen Benzinkanister
In Belfast schleudert ein Mann einen Benzinkanister auf die Straße. Manche der Protestierenden sind aber auch sehr jung, von 12- bis 14-jährigen Kindern ist die Rede.
© Liam Mcburney / DPA
Sehen Sie im Video: Gewalt zwischen irischen Nationalisten und den pro-britischen Unionisten in Nordirland eskaliert.




Die gewaltsamen Proteste von pro-britischen und pro-irischen Gruppierungen im nordirischen Belfast halten an. In der Nacht zu Freitag griffen Jugendliche aus pro-irischen Gebieten Polizisten mit Benzinbomben und Steinen an. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein. Wie der britische »Guardian« berichtet, soll die Polizei am Abend auch mit dem Einsatz von Plastikgeschossen gedroht haben. Bereits am Mittwoch war es zu Kämpfen zwischen den irischen Nationalisten und den pro-britischen Unionisten gekommen. In der Nacht zu Donnerstag hatten Jugendliche aus pro-britischen Gebieten in Belfast einen Bus unter ihre Kontrolle gebracht und in Brand gesteckt. Sie griffen die Polizei mit Steinen an. Seit Ostern kommt es immer wieder nachts zu Auseinandersetzungen. Bei den Unruhen der vergangenen Tage waren mehr als 50 Polizisten verletzt worden. Viele Anhänger der pro-britischen Unionisten sind zunehmend frustriert wegen der neuen Handelsbarrieren zwischen Nordirland und dem übrigen Vereinigten Königreich - ein Ergebnis des britischen Austritts aus der EU. Irlands Außenminister Simon Coveney fordert ein Ende der seit Tagen anhaltenden Gewalt im nordirischen Belfast. "Dies muss aufhören, bevor jemand getötet oder schwer verletzt wird", sagte er am Donnerstag dem irischen Sender RTE und forderte gemeinsame Bemühungen um eine Entspannung der Situation. Die Gewalt zwischen pro-britischen und pro-irischen Gruppierungen sei äußerst besorgniserregend. "Das sind Szenen, wie wir sie in Nordirland seit langem nicht mehr gesehen haben", sagte Coveney in Anspielung auf die jahrzehntelangen erbitterten Kämpfe in der britischen Provinz Nordirland. Die nordirische Regierung hat die Gewalt in einer parteiübergreifenden Erklärung verurteilt.
Ist der Frieden in Nordirland vorbei? Seit mehr als einer Woche vergeht kein Tag ohne blutige Krawalle. Der Brexit verschlimmert die Lage: Die London-treuen Protestanten fühlen sich verraten.

Ein brennender Bus, Jugendliche, die Brandsätze werfen, nächtliche Krawalle – aus Nordirland werden seit Tagen Bilder gesendet, von denen viele gehofft hatten, dass sie nie wieder zu sehen sind. Gut eine Generation ist das Karfreitagsabkommen her, das im April 1998 einen der blutigsten Konflikte der Nachkriegszeit in Europa beendete. Jetzt scheint er wieder aufzuflammen. Politiker in Großbritannien sind alarmiert.

Seit mehr als einer Woche explodiert Abend für Abend die Gewalt irgendwo in einer Stadt in Nordirland, beklagt die BBC, die der Lage dort eine lange Analyse widmet. Viele befürchten, dass sich die Gewalt weiter aufschaukelt.

Bus in Belfast in Brand gesteckt

In der Nacht zum Donnerstag gab es besonders schlimme Krawalle in der Provinzhauptstadt Belfast, wo Jugendliche einen Doppeldeckerbus kaperten und in Brand setzten. Der Fahrer des Busses sei zwei äußerlich unverletzt geblieben, so die BBC, aber er sei schwer schockiert. Die Attacke ereignete sich an einer Kreuzung, genau an der Grenze zwischen einem katholischen und einem protestantischen Wohnviertel. 

Politiker verurteilten die Gewalt. Die Regierung des Landesteils, der zu Großbritannien gehört, veröffentlichte am Donnerstagnachmittag nach einer Sondersitzung eine Erklärung, in der die Krawalle scharf verurteilt wurden:  "Zerstörung, Gewalt und die Androhung von Gewalt sind vollkommen inakzeptabel und nicht zu rechtfertigen", hieß es darin.

Nordirland wird von einer Einheitsregierung der jeweils größten Parteien von protestantisch-unionistischer und katholisch-republikanischer Seite regiert. Etwas mehr als die Hälfte der Nordiren sind mehreren Medien zufolge Protestanten, deutlich mehr als 40 Prozent Katholiken. Früher war die protestantische Mehrheit deutlich größer. 

Auch das Regionalparlament kam trotz Osterpause am Donnerstag zu Beratungen zusammen. Die Stimmung ist explosiv.

Der Brexit wird für Nordirland zum großen Problem

Aber warum? Es ist eine gefährliche Mixtur aus mehreren Faktoren, aus denen sich die Gewalt speist. Die zwei wichtigsten sind die Animositäten zwischen protestantischen und katholischen Nordiren, die nie aufgehört hat, und der Brexit, dessen Folgen Nordirland besonders hart treffen.

Aktuell soll die Gewalt von protestantischen Gruppierungen ausgehen, teils mit Verbindungen zum Drogenhandel. Es sollen viele Minderjährige unter den Gewalttätern sein, teils 12 oder 13 Jahre alt. Die Randalierer werfen Brandsätze, prügeln sich mit Polizisten, schüren Angst.

Doch die Ursache vor allem als kriminelle Erscheinung abzutun, wäre zu einfach. Denn unter den Protestanten, also den Bürgern, die sich der Regierung in London gegenüber loyal fühlen, wächst der Frust wegen des Brexits. Sie haben wegen einer Sonderregelung bei der Scheidung Großbritanniens von der EU Angst, dass sich ihre Provinz immer weiter vom britischen Mutterland entfernt und fühlen sich verraten.

Durch diese Regel wurde Nordirland im Europäischen Binnenmarkt und in der Zollunion belassen, was zunächst einmal gut klingt. Denn man wollte unter allen Umständen vermeiden, dass erneut eine Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und der Republik Irland im Süden entsteht, die ja Teil der Europäischen Union ist.

Doch die Regel schafft eine neue Barriere: Denn jetzt müssen Kontrollen an den Häfen stattfinden, wenn Waren aus den anderen Teilen des Vereinigten Königreichs nach Nordirland kommen. Es gibt wegen des Brexits also eine Art von Grenze zwischen Großbritannien und Nordirland, eine seltsame Grenze mitten im eigenen Staatsgebiet. London und Belfast entfernen sich politisch weiter voneinander – für die Protestanten in Nordirland ein Graus.

Gut besuchte Beerdigung eines ehemaligen IRA-Terroristen mitten in der Corona-Pandemie

Der Brexit verstärkt somit den Hass zwischen Katholiken und Protestanten, der nie ganz aufhörte – auch, wenn das Karfreitagsabkommen der Provinz fast ein Vierteljahrhundert Frieden brachte. Und Anlässe, diesen Hass weiter anzufachen, werden immer gefunden: etwa die Beerdigung eines ehemaligen IRA-Terroristen im vergangenen Sommer, bei der die zahlreichen Trauergäste die Corona-Abstands- und Hygieneregeln missachteten – und das in einer Zeit, in der viele Menschen ihre Angehörigen wegen der Pandemie nur bei notdürftigen Trauerfeiern und im kleinsten Kreis beerdigen konnten. Dass die Teilnehmer der Prozession rechtlich nicht belangt werden, macht viele Protestanten wütend und wird auch als ein Auslöser für die aktuellen Krawalle genannt.

Es sind brutale Auseinandersetzungen, wie die in der Nacht zum Donnerstag. Allein mehr als 50 Polizisten wurden offiziellen Angaben zufolge bei Ausschreitungen in den  vergangenen Tagen verletzt. Premierminister Boris Johnson zeigte sich "zutiefst besorgt". Der Weg, Differenzen zu lösen sei Dialog, nicht Gewalt oder Kriminalität, twitterte Johnson. Auch Nordirlands Regierungschefin Arlene Foster verurteilte die Gewalt: "Das ist kein Protest. Das ist Vandalismus und versuchter Mord", mahnte Foster. 

Die Worte klingen hilflos, eine Beruhigung der gewaltbereiten Atmosphäre ist aktuell nicht sehr wahrscheinlich. Viele ältere Nordiren können sich noch lebhaft an den blutigen Konflikt erinnern, der Jahrzehnte dauerte und mehr als 3600 Menschen das Leben kostete, fast 50.000 wurden verletzt. Dass die Provinz erneut in einen Strudel der Gewalt abgleiten könnte, macht vielen Menschen Angst.