Wer noch vor einigen Tagen dachte, es könne nicht schlimmer kommen, der irrte gewaltig. Es kam. Nach den Anschuldigungen, er habe sich über Jahre prall gefüllte Geldumschläge von politischen Freunden in die Tasche stecken lassen, steht Premierminister Ehud Olmert jetzt unter Verdacht, mehrere Wohltätigkeitsorganisationen betrogen zu haben. Ein Vorwurf, der in Israel schwerer nicht wiegen könnte. Denn er beinhaltet all jene, die einen besonderen Stellenwert in der Gesellschaft haben: Holocaust-Überlebende, geistig behinderte Kinder, kranke Studenten und Soldaten.
In der "Rischon Tours Affäre", der die einheimische Presse den bitterbösen Spitznamen "OlmerTours-Affäre" verpasste, soll er auf Kosten verschiedener sozialer Einrichtungen gemeinsam mit seiner Familie um die ganze Welt gejettet sein. Doch damit nicht genug: Durch doppelte Rechnungsstellung soll Olmert die Organisationen, darunter die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem, um mehr als Hunderttausend Dollar betrogen haben. Die Überschüsse sollen direkt auf sein Privatkonto geflossen sein. Olmerts Anwälte bestreiten dies und sprechen lediglich von Unregelmäßigkeiten und Nachlässigkeit beim Prüfen der Vorgänge. Bewahrheiten sich die Behauptungen indes so wie sie vorgebracht sind, wäre das sicher die niedrigste Stufe der moralischen Leiter, auf die ein israelischer Regierungschef je gerutscht ist.
Der Premierminister wurde noch nicht einmal angeklagt
Diese jüngste ist mittlerweile die sechste polizeiliche Untersuchung gegen den Politiker. Es ist nicht ganz leicht, bei all den Vorwürfen den Überblick zu behalten. Vor wenigen Monaten begann alles mit dem plötzlichen Auftauchen eines amerikanischen Juden namens Morris Talansky. Dieser, so die Ermittler, habe Olmert, als er Bürgermeister von Jerusalem sowie Minister für Handel und Industrie war, innerhalb von 15 Jahren Bargeld übergeben, für ihn Hotelrechnungen beglichen und Geschenke bezahlt. Auch habe er ihm Kredite gewährt, die allerdings nie zurückgezahlt wurden. Insgesamt belaufe sich die Summe auf 150.000 Dollar, behauptet Talansky. Nun wurde der US-Amerikaner von Olmerts Anwälten ins Kreuzverhör genommen - und blieb standhaft bei seiner Version.
Bis heute ist nicht bewiesen, dass dieses Bargeld tatsächlich geflossen ist. Der Premierminister ist weder verurteilt, noch ist seine Immunität aufgehoben. Er ist noch nicht einmal angeklagt. Nach den neuesten Aussagen von Talansky will der Generalstaatsanwalt nun entscheiden, ob endgültig Anklage gegen Olmert erhoben wird. Der Premier gilt als unschuldig, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Die politische Realität jedoch sieht anders aus: Der Regierungssessel wackelt nicht mehr nur, er schwankt gewaltig. So oder so werde Olmert in die Geschichte eingehen, ist der ehemalige Knessetsprecher und politische Weggefährte Avraham Burg überzeugt. "Entweder wird er unvergessen sein, weil er es als erster tatsächlich zu einem Abkommen mit den Palästinensern und Syrern bringt oder weil er besonders tiefe Taschen hatte."
Die Öffentlichkeit wird immer ungeduldiger
Ehud Olmert hat keinen leichten Job. Umgeben von Feindesnationen oder zumindest Staaten, die ihm nicht allzu wohl gesonnen sind, ständigen Unruhen und Quasi-Kriegszustand vor der Haustür, einem Süden, der mit trauriger Regelmäßigkeit beschossen wird sowie der ständigen Angst vor Terroranschlägen in jeder großen Stadt. Und dennoch genießt er das Leben in vollen Zügen. Zumindest, wenn man manchen politischen Kommentatoren Glauben schenkt. "Als Hedonisten der ganz besonderen Art mit einer Liebe zu teuren Uhren und feinen Zigarren", bezeichnete ihn die größte Tageszeitung "Haaretz".
Bislang hat Olmert stets betont, unschuldig zu sein. Ausführlich erklärt hat er seine Version der Dinge indes nie. "Warum nicht?", fragte ihn kürzlich eine Fernsehjournalistin. "Weil ich dafür mindestens zehn Stunden bräuchte, und die habe ich nicht", lautete seine Antwort. Wirklich überzeugend ist das kaum. Zumindest nicht für die Öffentlichkeit. Die wird mit jedem neuen Vorwurf ungeduldiger und wütender. Dass der Premier eine außergewöhnlich dicke Haut und sehr gutes Sitzfleisch hat, bewies er schon des Öfteren.
"Die anderen sind doch Schuld"
Etwa nach dem Erscheinen des Winograd-Berichtes, der sowohl der Militärführung wie auch der Regierung - und explizit Olmert persönlich - gravierende Fehler im zweiten Libanonkrieg vom Sommer 2006 bescheinigte. Viele meinten damals, er hätte genauso zurücktreten müssen wie der damalige Generalstabschef Dan Halutz. Olmert jedoch lächelte galant, statt seinen Hut zu nehmen, und sagte: "Na also, die anderen sind doch Schuld".
Darin scheint der Politiker besonders gut zu sein: Der Gegenseite den Schwarzen Peter zuzuschieben, wenn es eng wird. Zu den neuesten Anschuldigungen ließ er durch seine Medienberater erklären, die Polizei wolle ihn offensichtlich anprangern und vom Regierungssessel stoßen. Sogar von Putsch war die Rede. Generalstaatsanwalt Menachem Mazuz betonte, dass die Polizei in diesem Fall ganz normal vorgegangen sei: "Werden Ermittlungen gegen eine öffentliche Person aufgenommen, muss es offiziell bekannt gegeben werden. Das ist unsere Pflicht gegenüber der Öffentlichkeit. In einem demokratischen Staat kann eine kriminelle Ermittlung nicht im Dunkeln stattfinden."
Geschlagen, müde und emotional ausgezehrt
Fast einhellig scheint mittlerweile die Überzeugung in Israel, Olmerts Tage als Premierminister seien gezählt. Bereits mehr als einmal ging durch die Presse: "Diese Geschichte kann er nicht überstehen". Und doch erschien er am nächsten Tag in seinem Büro, reiste zum Gipfel der Mittelmeerunion nach Paris, als sei nichts geschehen. Hinter den Kulissen jedoch soll es anders aussehen. Als "geschlagen, müde und emotional ausgezehrt", bezeichnen ihn Insider nach den jüngsten Unterstellungen. Tatsächlich sieht man den sonst so aufrecht Gehenden immer öfter bedrückt und in sich zusammengesackt.
Der Sitz als Vorsitzender der Kadima-Partei ist so gut wie weg, da sind sich alle einig. Umfragen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ergaben, dass 30 Prozent aller Parteimitglieder keinem der noch zur Wahl stehenden Politiker ihre Stimme geben möchten. Weitere 30 Prozent hätten gern die Außenministerin Tzipi Livni an der Spitze und lediglich acht Prozent Schaul Mofaz. Livni hatte sich in letzter Zeit immer deutlicher gegen ihren Chef gestellt. Noch hat sich Olmert nicht geäußert, ob er bei den Wahlen Mitte September noch einmal antreten wird. Doch das, meinen Experten, sei wahrscheinlich nur noch leeres Gerede.
Die Filmemacherin Orna Ben-Dor versuchte zu ergründen, warum der Premier so reagiert wie er reagiert. "Eine der wichtigsten Verhaltensregeln für Israelis ist es, kein Frajer zu sein", erklärte sie in einem Fernsehinterview. Frajer ist ein Begriff auf dem Jiddischen, der Menschen bezeichnet, die sich von anderen ausnutzen und übers Ohr hauen lassen. Für Ben-Dor ist das ganz klar einer der Gründe, warum Olmert offensichtlich lieber nimmt anstatt zu geben. "Es ist schlimm für die Gesellschaft", resümierte die Filmemacherin, "denn mit diesen Affären sind wird moralisch ganz unten angelangt".