KATASTROPHENROUTINE Langsam haben wir ein dickes Fell

Zwei Monate nach dem Anschlag auf das World Trade Center stürzt wieder ein Flugzeug über New York ab und versetzt die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Ein Gedanke ist weit verbreitet: Bitte nicht schon wieder!

Schon wieder »ein Tag danach« für die New Yorker: Gerade zwei Monate ist es her, dass Terroristen die Metropole in ihrem Nerv trafen und das Leben in den Straßenschluchten für Tage erstarren ließen - schon ereilt sie die nächste Tragödie. Doch nach dem Absturz des Airbus, American Airlines Flug 587, über dem Stadtteil Queens am Montag hält der Ausnahmezustand nur noch Stunden an. Zwar lässt Bürgermeister Rudolph Giuliani wie zuvor alle Flughäfen, Brücken und Tunnels sperren. Aber zumindest in Manhattan, einige 20 Kilometer von der Unglücksstelle entfernt, ist der erste Schock schnell überwunden.

»Ich glaube, wir haben langsam ein dickes Fell«, sagt der 37- jährige Werbefachmann Joe Borys der dpa am Dienstag. Von den gut 1400 Kollegen in seiner Firma eilte »diesmal nicht einer nach Hause, um nach der Familie zu sehen«.

»Ich habe Gott nur um eins gebeten: Nicht wieder ein Terrorakt«

Audrey Christian aus Brooklyn gehen die Fernsehbilder von dicken, schwarzen Rauchschwaden und brennenden Häusern mehr unter die Haut. Die 22-Jährige hatte am 11. September im 55. Stock des World Trade Center gearbeitet und sich gerade noch in Sicherheit bringen können, bevor die Türme hinter ihr zusammenstürzten. »Ich habe Gott nur um eines gebeten: Bitte nicht wieder ein Terrorakt«, sagt sie am Abend nach New Yorks jüngster Katastrophe. »Angst? Ja, ich habe Angst und Hass in mir. Aber mein Leben deshalb ändern? Kommt nicht in Frage.«

Ein junger Polizist, der das abgeriegelte Hauptquartier der Vereinten Nationen an New Yorks First Avenue bewacht, ist wenig berührt von der Tragödie des Vortages. »Ich denke, das war normal, ein Unfall«, meint er. »Ich bin in New York aufgewachsen. Soll ich etwa davonlaufen?«, sagt er und behält seinen Namen für sich, »aus dienstlichen Gründen«.

»Wie soll man bie den ständigen Schreckensnachrichten ruhig bleiben?«

Der Gedanke, die Stadt zu verlassen, kam Patricia Wargo (34) »wirklich zum ersten Mal«, als sie vom Absturz in der Nähe des John F. Kennedy Airports hörte. »Noch einmal 200 bis 300 Tote. Es wird mir einfach zu viel. Wie soll man bei den ständigen Schreckensnachrichten ruhig bleiben?« Dagegen ist die 25-jährige Amy Nay aus dem einsamen Gunnison in Utahs Rocky Mountains trotz Ground Zero und Anthrax noch genauso fasziniert von New York wie vor drei Jahren, als sie kam, um hier ihr Glück zu versuchen. »Im Gegenteil«, sagt sie, »die Menschen haben heute mehr Mitgefühl als vor dem 11. September«.

Wieder zwängen sich Millionen Berufstätige in die U-Bahnen

Äußerlich scheint alles wieder beim Alten – »back to normal« lautet die Devise. Wer in einem von New Yorks Hot Spots zu Abend essen will, muss seinen Tisch wie gewohnt Tage vorher reservieren. Vor der TKTS-Bude am Times Square, die Karten für Broadway-Shows zum halben Preis verkauft, steht die vertraute Menschenschlange. Zur Rush-Hour zwängen sich inzwischen wieder Millionen von Berufstätigen in die U-Bahnen. Die Furcht vor einem chemischen Anschlag oder lebensgefährlichen Bakterien unter der Erde ist verdrängt. Macy?s, dem Slogan nach noch immer das größte Kaufhaus der Welt, und seine gediegene Konkurrenz an der Fifth Avenue, sind seit Wochen weihnachtlich dekoriert; und im Rockefeller Center wartet eine 27 Meter hohe norwegische Fichte darauf, über der berühmten Eislaufbahn aufgebaut zu werden.

»Doch das ist nur die Oberfläche«, analysierte die »New York Times« in einem Kommentar am Montag. Unter der Schale leide die Metropole noch genauso wie vor zwei Monaten. »Die Trauer hat kaum nachgelassen, wenn überhaupt«, heißt es in der Ausgabe der Zeitung, die Stunden vor der neuen Katastrophe erschien. »Die New Yorker Bevölkerung ist, natürlich mit individuellen Nuancen, emotional und wirtschaftlich schwer erschüttert von der Attacke auf das World Trade Center«.

Ein Gefühl tiefer Traurigkeit bei allen New Yorkern

Voraussichtlich werden bis zu 80 000 Menschen am Jahresende ihren Job verloren haben, die meisten aus dem Süden Manhattans - Rechtsanwälte, Banker, aber auch Kellner und Straßenverkäufer. Der Verlust von Tausenden unschuldiger Leben, die Anthrax-Furcht und Androhung weiterer Terroranschläge hätten ihre Spuren hinterlassen: »Wir spüren dieses Gefühl tiefer Traurigkeit bei allen New Yorkern«, schreibt die Zeitung.