Kurz vor unserem Umzug machte ich noch mal die Runde bei Ärzten, die Klassiker von A bis Z, von Augenarzt bis Zahnarzt. Der Augenarzt sagte: „Sie haben ein kleines Loch in der Netzhaut, das flicken wir hier. Die Engländer sind darin nicht so gut.“ Der Hautarzt sagte: „Sie haben da ein kleines Geschwür an der Wange, nichts Schlimmes, aber das machen wir noch weg. In England weiß man nie so richtig.“ Der Zahnarzt sagte: „Die Krone sollten Sie sicherheitshalber noch hier machen lassen.“ Es hörte sich so an, als hätte England zwei gravierende Probleme – Elfmeterschießen und Ärzte.
Ich war danach etwas verwirrt. Denn Briten haben eine ganze Menge erfunden und sind sehr stolz darauf, zu Recht: Klospülung, Fußball, Dampfmaschine, Telefon, Internet, Amerika. Und den NHS.
NHS bedeutet „National Health Service“, und jeder in Großbritannien lebende Mensch ist berechtigt, die NHS-Leistungen in Anspruch zu nehmen. Der NHS ist der kleinste und größte gemeinsame Nenner aller auf der Insel. 1,6 Millionen Leute sind Angestellte der NHS. Damit ist der Service einer der fünf größten Arbeitgeber der Welt – zusammen mit dem US-Verteidigungsministerium, McDonald’s, der Supermarktkette Walmart und der chinesischen Armee. Man kommt hierzulande an der NSH nicht vorbei und schon damit zur Welt. Lebt sein Leben lang mit der NHS. Und stirbt am Ende in den Armen der NHS. Oder vielleicht nicht immer in den Armen, sondern doch zu Hause oder auf dem Boden im Krankenhaus, aber dazu kommen wir noch.
Der NHS ist eine nationale Ikone und brachte es sogar ins Programm der olympischen Eröffnungsfeier. Krankenschwestern tanzten um Betten mit Patienten drin, und die Welt konnte den Eindruck gewinnen, dass Kranksein im Königreich fast Spaß machen muss. Das stimmt aber nicht. In Wahrheit ist es so: Der Health Service leidet unter Altersschwäche, Bürokratie-Verstopfung und finanzieller Schwindsucht. Der NHS ist ein englischer Patient.
Notrufe wurden ignoriert. 57 ältere Menschen starben
Seit Monaten vergeht kein Tag, wirklich keiner, ohne Horror-Geschichten. Es fehlt an Geld, es fehlt an Krankenhausbetten, es fehlt an Personal, es fehlt an allen Ecken und Enden. Ich könnte, wenn ich wollte, jede Woche darüber eine Kolumne schreiben. Der neueste Skandal ist nun der, dass es über zwei Monate hinweg eine Weisung gab, wonach man keine Rettungswagen zu ohnehin Schwerkranken schickte, die die Notfallnummer 999 wählten. Statt dessen riefen die Sanitäter nach 20 Minuten noch mal beim Schwerkranken an und fragten freundlich, ob es nun besser ginge oder ob sie doch einen Wagen schicken sollten. Meistens ging es natürlich nicht besser, und manchmal ging der Schwerkranke gar nicht mehr ans Telefon, weil zwischenzeitlich verschieden. 57 alte Leute starben nachweislich an unterlassener Hilfe, darunter eine 92 Jahre alte Dame, die fünf Stunden auf einen Rettungswagen wartete. Das ist nur der neueste Skandal.
Das Ganze firmiert in der britischen Presse als „winter crisis“, Winterkrise. Die Ambulanzen sind hoffnungslos überfüllt, manchmal stauen sich die Krankenwagen, weil nichts mehr geht. Besonders schlimm ist es in Wales, und die Waliser fahren dann schnell nach England. Es kann passieren und passiert, dass Leichen schon mal auf den Boden im Krankenhaus gelegt werden statt in die Leichenhalle, weil die Fahrer ihre Schicht gerade beendet haben und die Toten der nächsten Schicht überlassen. Erste Fahrt dann: Leichenhalle. Routine-Operationen müssen verschoben werden, vor den Praxen in ländlichen Gegenden bilden sich Warteschlangen von Patienten, die frühmorgens anstehen, um am späten Nachmittag einen Doktor zu sehen. Weshalb viele gar nicht mehr in die Praxen gehen, sondern direkt ins Krankenhaus, was wiederum dazu führt, dass Notfälle nicht mehr wie Notfälle behandelt werden können und die Ambulanzen überlaufen.
Die Zukunft der NHS wird natürlich auch den Wahlkampf bestimmen. Labour will das Budget pro Jahr um 2,5 Milliarden Pfund erhöhen (zur Zeit knapp 115 Milliarden Pfund) und die Öffnungszeiten der Gesundheitszentren auch aufs Wochenende erweitern. Die Gesundheitspolitik könnte sogar wahlentscheidend sein. Mehr als die Hälfte der Briten glaubt, dass unter der konservativen Regierung der NHS schlechter wurde. Labour möchte auch deshalb aus Gesundheit gern das große Wahlkampfthema machen, die Tories von Cameron bevorzugen Europa und Immigration und Wirtschaft. Über Kranke und Krankheiten spricht man ja auch nicht so gern.
Jetzt sind nur die Praxen überfüllt, das ist ein Fortschritt
Trotz der vielen Horror-Geschichten käme aber niemand auf die Idee, das Gesamtkonstrukt NHS zu hinterfragen. Es ist so britisch wie die Monarchie und der Tee. Immerhin gelingt es fast in 90 Prozent der Fälle, Patienten binnen einer Stunde zu behandeln. Und so schlimm wie zur Jahrtausendwende ist es auch nicht mehr, als schon mal Kühlwagen vor Hospitälern standen, weil die Leichenhallen überfüllt waren. Jetzt sind nur die Praxen überfüllt, das ist ein Fortschritt.
Wir können über die NHS nichts Schlechtes sagen, wirklich nichts. Unsere Praxis liegt zehn Minuten entfernt; wenn man etwas hat, ruft man dort an und bekommt einen Termin. Es funktioniert ganz gut, und manchmal wundere ich mich nur über die vielen Geschichten in Funk, Fernsehen und Presse. Vielleicht haben wir nur Glück, wer weiß.
Kurz vor Weihnachten, zu Zeiten der NHS-Winterkrise, war ich in Deutschland und drehte noch mal eine Ärzte-Runde. Hautarzt, Augenarzt, Hausarzt. Sie alle erkundigten sich nach unseren Erfahrungen. Ich konnte, wie gesagt, nicht meckern. Der Hautarzt schnitt mir wieder was aus der Wange und sprach: „Die Fäden müssen Sie in London ziehen lassen.“ Nach ein paar Tagen ging ich also in unsere Praxis, es war sehr kalt. Draußen standen Menschen und warteten. Ich machte kehrt, ging nach Haus und zog mir die Fäden selbst. Ich war einfach nicht englisch genug, mein Fehler.
Nun habe ich diese blöde Narbe.