Libanon Hisbollah greift nicht nach der Macht

Im Libanon hat die Gewalt über den Staat triumphiert, aber die Hisbollah greift nicht nach der Macht. Zwar herrscht nun eine Kultur der Angst - doch es ist auch eine große Chance für die Lösung vieler Probleme, die seit Jahren nicht angegangen wurden. Ein Kommentar von Jan Rübel.

Es gibt Sätze, die bedeuten im Nahen Osten immer ihr Gegenteil. "Es soll eine Lösung geben, nach der es weder Sieger noch Besiegte gibt", schwang sich jetzt Parteivize Naim Kasem von der Hisbollah in Beirut auf. Das klang bestenfalls gnädig. Auch der libanesische Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 wurde mit dieser Formel beendet, die damals nur die Niederlage der Christen aufhübschen sollte. Eine Woche nach den Waffengängen von Beirut ist die Niederlage des Regierungslagers im Libanon komplett. Die Opposition triumphiert.

Westliche Medienberichte haben sich in den vergangenen Tagen meist keine Mühe gegeben, die tatsächlichen Geschehnisse in Beirut nachzuzeichnen. Die Stadt versinke in Chaos und Terror, vermeldeten die Agenturen. Massaker fänden statt. Nichts davon hat sich als wahr herausgestellt. Was war passiert? Vor einer Woche ließ die islamistische Hisbollah ihre Kämpfer auf Westbeirut los, innerhalb von acht Stunden waren die Straßen in ihrer Kontrolle. Die Gegenwehr der schlecht ausgebildeten und unmotivierten Regierungsmilizen war marginal, Bevölkerung und Armee hielten sich zurück. Die allermeisten Westbeiruter waren während der Kämpfe nicht in unmittelbarer Gefahr, es gab keine Vertreibungen, keine Massaker. So schnell die Hisbollah-Milizionäre kamen, so schnell waren sie auch wieder verschwunden; den Streitkräften hatten sie das Areal übergeben. Ein Putsch sieht anders aus.

Es geht nicht um das übliche konfessionalistische Geschacher

Immer wieder wurden die Kämpfe als konfessionell beschrieben. Zwar standen sich Schiiten und Sunniten bei den Waffengängen gegenüber. Aber letztlich geht es bei diesem Konflikt nicht um das übliche konfessionalistische Geschacher innerhalb des Patronagesystems, sondern um einen Streit über die politische Grundausrichtung der Gesellschaft.

Auf der einen Seite steht das Regierungslager. Es verfolgt eine Reformpolitik im Sinne strikter Marktwirtschaft und versucht, vor allem ausländische Investoren aus den Golfstaaten anzuziehen. Das tut der Volkswirtschaft gut, kommt aber bei den größten Teilen der Bevölkerung nicht an, weil diese Investitionen - wie im Libanon üblich - nicht über den Speckgürtel der superreichen Beiruter Geschäftsviertel hinauskommen.

Und die Regierung unter Ministerpräsident Fuad Siniora will wegen der horrenden Staatsverschuldung die Sozialsysteme umbauen: viel weniger Renten und viel weniger Leistungen aus den Krankenkassen. Das bringt die Opposition auf den Plan. Sie reklamiert, dass die massive Staatsverschuldung allein den Kabinetten unter dem verstorben Rafik al Hariri zuzuschreiben ist, dem Vater des jetzigen Anführers des Regierungslagers; Siniora agierte seinerzeit als Finanzminister. Das Geld wurde in massiven Aufbauprogrammen verpulvert, von denen der Baukonzern der Familie Hariri mehr profitierte als die Volkswirtschaft.

Der Konflikt ist also kein ewiger, kein religiöser. Er ist uns Deutschen gar nicht fremd: Marktliberale gegen Sozialwärmelnde, das ist die Grenzlinie im Libanon. Und Hisbollah ist zwar das stärkste Glied in der Opposition. Aber gern wird im Western verschwiegen, dass viele Christen, wahrscheinlich die Mehrheit von ihnen, die Politik von Hisbollah unterstützen.

Um diesen Grunddissens ging es auch beim monatelangen Streit um die Wahl eines Präsidenten und einer neuen Regierung. Daher könnten die jüngsten Waffengänge endlich eine Lösung erbringen: Zu geschwächt ist das Hariri-Lager, um weiterhin kompromisslos aufzutreten.

Hisbollah indes hat in den vergangenen Tagen eine hässliche Fratze demonstriert. Zum ersten Mal zeigte die selbst ernannte Partei Gottes nicht nur die Zähne, sondern biss auch zurück. Nichts geht ohne sie und die Bevölkerungsmehrheit der Schiiten, die hinter ihr steht: das ist die Lehre dieser Woche. Im Zweifelsfall missachtet Hisbollah die instabilen Staatsstrukturen und gibt sie der Lächerlichkeit preis.

Viele hatten in den vergangenen Jahren gehofft, Hisbollah werde mehr Partei als Miliz. Nun wurden sie enttäuscht. Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit sind diesen Islamisten nichts wert. Zwischenzeitlich besetzten sie in diesen Tagen die Medien des Regierungslagers, und Journalisten werden bis heute mit Telefonanrufen eingeschüchtert, bloß nichts Kritisches über die Gottespartei zu berichten. Eine neue Kultur der Angst ist eingekehrt. Die Kämpfer, das spürt man, könnten jederzeit wiederkommen. Beiruts Ruf als Hafen eines liberalen Arabiens steht auf dem Spiel.

Hisbollah greift nicht nach der Macht

Allerdings greift Hisbollah nicht nach der Macht, sie sucht weder einen islamischen Gottesstaat noch staatliche Anarchie. Hier sollte das Regierungslager ansetzen und verhandeln. Und hier wächst eine Aufgabe auch für Deutschland heran.

Die deutsche Außenpolitik sollte sich nicht mehr ausschließlich fragen, wen sie unterstützt, sondern welche Politik sie gutheißt. Bisher setzte sie kritiklos auf Siniora, der das Land spaltete und machtlos war. Umgeben ist der Sunnit von zwielichtigen Gestalten wie Dr. Samir Geagea, dem berüchtigten Ex-Chef der Miliz "Forces Libanaises". Der libanesische Volksmund nennt ihn bis heute "Dr. Tod". Will der Westen solche Leute an der Macht sehen?

Zeit für eine große Koalition

Es ist Zeit für eine große Koalition im Libanon, für eine wie in Deutschland. Beide Seiten sollten abfragen, welche Politik sie unabhängig von eigenen Materialinteressen gemeinsam verfolgen können und ob sie sich auf eine Wirtschafts- und Sozialpolitik einigen. Geführt werden kann solch eine Politik nur von einer starken Gestalt. In Frage dafür kommt lediglich ein Militär - ist die schwache Armee im Libanon doch der einzige Garant für Neutralität in dieser fragmentierten Gesellschaft.

Der Libanon braucht einen neuen Fuad Chihab. Der Armeechef wurde 1958 zum Staatspräsidenten gewählt. Er beendete damit einen "kleinen" Bürgerkrieg, der inhaltlich exakt der heutigen Konfliktlinie entsprach, und führte den Zedernstaat in eine bis dahin völlig neue Phase der Eintracht, Stabilität und Prosperität. Es spricht einiges dafür, dass der derzeitige Armeechef und designierte Präsident Michel Sulaiman dies könnte. Nun muss er ran. Schnell.

Der Autor arbeitet bei der Reportage-Agentur Zeitenspiegel und schreibt auch für den stern und stern.de. Er hat Islamwissenschaft und Nahostgeschichte in Beirut, Hamburg und Tel Aviv studiert.

Jan Rübel