London Vertuschungsvorwürfe gegen Polizeichef

Widersprüchliche Informationen über die Erschießung eines unschuldigen Brasilianers durch Londoner Polizisten bringen Scotland Yard in Bedrängnis. Nach Vertuschungsvorwürfen wird der Rücktritt von Polizeichef Ian Blair gefordert.

"Wir glauben, dass die Integrität von Ian Blair und seinem Büro in Frage gestellt ist", sagte Asad Rehman von der Aktivistengruppe "Justice 4 Jean" am Freitag. Die Kampagne ist nach Jean Charles de Menezes benannt, der am 22. Juli mit sieben Schüssen in einem U-Bahnhof niedergestreckt wurde. Die Mehrheit der Londoner stehe vermutlich hinter der Forderung nach einem Rücktritt Blairs, sagte Rehman in einer Pressekonferenz. Ein Cousin des getöteten 27-jährigen Elektrikers warf Blair vor, über dessen Tod absichtlich gelogen zu haben. "Haben die (Polizisten) geglaubt, nur weil wir arme Brasilianer sind, verdienen wir die Wahrheit nicht?", sagte Alessandro Pereira unter Tränen.

Die Londoner Polizei steht wegen ihrer offenkundig falschen Darstellung des Vorfalls unter erheblichem Druck. Blair gab als Begründung für die Schüsse auf Menezes an, der Mann habe sich Anweisungen der Polizisten widersetzt und sich verdächtig verhalten. Überdies sollte er Kleidung getragen haben, unter der Sprengstoff hätte versteckt sein können. Der britische Sender ITV News war im Besitz von Informationen aus Polizeikreisen, die dieser Darstellung widersprachen. ITV News berief sich zudem auf Augenzeugen.Tatsächlich trug Menezes eine einfache Jeansjacke und flüchtete auch nicht, wie die Bilder von Überwachungskameras aus der U-Bahn belegen.

Mitarbeiter der Untersuchungskommission suspendiert

Die Londoner Polizeibeschwerdekommission (IPCC) hat einem Bericht des Senders BBC zufolge einen Mitarbeiter vom Dienst suspendiert, nachdem heikle Informationen zu den Todesschüssen auf den Brasilianer an die Medien durchgesickert waren. Die IPCC wollte sich zu dem Bericht nicht äußern: "Wir kommentieren Personalfragen nicht".

Nach Angaben der Unabhängigen Beschwerdestelle der Polizei hatte sich Blair zunächst einer Untersuchung des Vorfalls widersetzt. "Dieser Streit hat zu einer Verzögerung geführt (...) aber wir haben hart daran gearbeitet, dies wieder aufzuholen", erklärte der stellvertretende Kommissionsvorsitzende John Wadham. Die Anwältin der Menezes-Angehörigen, Harriet Wistrich, bewertet dies als "bewusste Vertuschung". Die Angehörigen selbst forderten den Rücktritt des Scotland-Yard-Chefs. Polizeichef Blair wies die Vorwürfe zurück. Es gebe nichts zu vertuschen, sagte er der Zeitung "Evening Standard". Blair fuhr fort, unmittelbar nach der Erschießung von Menezes habe er wie die anderen Polizisten geglaubt, dass einer der gesuchten Terroristen getötet worden sei. Deshalb habe für ihn die Spurensicherung zunächst absoluten Vorrang gehabt, da er sich davon Aufschlüsse auf die übrigen drei verhinderten Selbstmordattentäter erhofft habe.

Brasilien schickt eigene Ermittler

Wegen der Vertuschungsvorwürfe schickt die brasilianische Regierung zwei eigene Ermittler in die britische Hauptstadt. Einem Bericht des britischen Senders BBC zufolge sollen sie nach London reisen und dort mit IPCC-Mitarbeitern zusammentreffen. Brasilien erwarte eine "weit reichende Aufklärung" über die Erschießung von de Menezes am 22. Juli. Freunde und Familienmitglieder des Getöteten haben zu einer Demonstration am Sitz des britischen Premierministers Tony Blair in der Downing Street aufgerufen. Genau vier Wochen nach dem Vorfall wollen sie gegen die angebliche "Vertuschung der Wahrheit" demonstrieren. Sie fordern den Rücktritt des Londoner Polizeichefs Ian Blair.

DPA · Reuters
DPA/Reuters