Alle sind für eine Welt ohne Atomwaffen. Aber so schnell wird es die nicht geben, und deshalb werden auch die Atomwaffen in Deutschland und im übrigen Europa bis auf weiteres bleiben. Das ist das Fazit von Beratungen der NATO-Außenminister in Tallinn (Estland). Der Vorstoß von Bundesaußenminister Guido Westerwelle und dessen Amtskollegen aus den Benelux-Staaten sowie aus Norwegen für einen Abzug der taktischen Atomwaffen aus Europa hat für eine neue Diskussion im Bündnis gesorgt. Aber die Welt bleibt erst einmal, wie sie ist.
Westerwelle gab sich dennoch zufrieden: "Hier ist ein Prozess in Richtung Abrüstung in Gang gekommen, der nach und nach mehr Fahrt aufnimmt". Nun komme es, so die deutsche Lesart, für das weitere Vorgehen vor allem auf die neue NATO-Strategie an. Die soll im November in Lissabon beschlossen werden und Aussagen über die künftige Rolle der Atomwaffen in der Bündnispolitik enthalten.
US-Außenministerin Hillary Clinton ist sich ziemlich sicher, dass auch nach der neu formulierten NATO-Strategie taktische US-Atomwaffen in Europa bleiben werden. Es geht um etwa 160 bis 200 Bomben der USA und vermutlich etwa 3000 der Russen. Die amerikanischen Bomben werden in Deutschland beispielsweise auf dem Fliegerhorst Büchel und möglicherweise auch auf dem US-Flughafen Ramstein gelagert. Und die, Stichwort "Nukleare Teilhabe", auch von deutschen Piloten abgeworfen werden könnten.
Solange es Atomwaffen gebe, müsse die NATO ein nukleares Bündnis bleiben, sagte Clinton in der NATO-Runde. Und: "Für ein nukleares Bündnis ist es von grundlegender Bedeutung, dass die nuklearen Gefahren und Verantwortlichkeiten breit geteilt werden." Und dass die NATO auf längere Sicht ein nukleares Bündnis bleibt, gilt auch großen sicherheitspolitischen Optimisten als wahrscheinlich.
Denn Russland hat sich zwar gerade mit den USA auf eine Reduzierung der strategischen Atomwaffen (also jener Waffen, die mit Raketen abgeschossen werden und einen Staat oder Kontinent weitgehend zerstören könnten) geeinigt. Bereitschaft zum Abbau der taktischen Waffen, deren Zerstörungskraft immerhin ein Mehrfaches der Hiroshima-Bombe von 1945 beträgt, hat Moskau bisher nicht erkennen lassen.
Das NATO-Bekenntnis von Tallinn, in diesem Fall sei eine glaubhafte Abschreckung aus konventionellen und nuklearen Waffen nötig, ebenso wie die Beteuerung, dass es keine Alleingänge einzelner Bündnismitglieder geben werde, bedeuten: Der Abzug der taktischen Atomwaffen aus Europa bleibt vorerst nur ein Wunsch. Westerwelle nimmt es gelassen: "Niemand hat je die Devise ausgegeben, dass dies in wenigen Jahren erreichbar wäre. Keiner ist naiv."
Die NATO-Regierenden unterschieden sich nicht im Konsens, sondern in der Betonung ihrer Anliegen. Wo Westerwelle die Chance einer "Friedensdividende" für Deutschland beschwor, hob Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hervor, das "Kerngeschäft" der NATO liege im Schutz der Bevölkerung. Polens Außenminister Radoslaw Sikorski erinnerte an die russischen Atomwaffenarsenale und Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner behauptete gar, in Fragen der taktischen Atomwaffen fühle sich Paris überhaupt nicht angesprochen.
Einigkeit herrschte vor allem darüber, dass die taktischen Atomwaffen, die sich ohnehin nach mehrere Jahrzehnten ihrer Verrottungsgrenze nähern, heute eher einen politisch-psychologischen als einen militärischen Wert haben. Und dass mit dem Eintreten von US-Präsident Barack Obama für eine atomwaffenfreie Welt, mit dem neuen amerikanisch-russischen START-Abkommen, der Neuformulierung der US-Nuklearpolitik und der Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages das Thema Nuklearwaffen "eine neue Dynamik" bekommen hat. Aber, so konstatiert ein Diplomat: "Der Atomgeist aus der Flasche ist nur sehr schwer wieder einzufangen."