Der Nordirland-Konflikt gehört zu den blutigsten in Westeuropa. Jahrzehntelang standen sich protestantische Befürworter der Union mit Großbritannien und katholische Anhänger einer Vereinigung der beiden Teile Irlands feindselig gegenüber. Tausende Menschen starben durch die Folgen des Konflikts. Mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 wurden zumindest die bewaffneten Auseinandersetzungen beendet.
Nun kommt es schon seit Tagen in Nordirland wieder zu Krawallen und Gewalt gegen Sicherheitskräfte: Ungeachtet aller Appelle zum Stopp der Gewalt haben in der Nacht zu Freitag in der nordirischen Hauptstadt Belfast erneut Randalierer gewütet. Jugendliche warfen im Westen der Stadt Steine, Feuerwerkskörper und Molotowcocktails auf Polizisten, wie die Nachrichtenagentur PA berichtete. Daraufhin habe die Polizei Wasserwerfer gegen die Randalierer eingesetzt – laut BBC zum ersten Mal seit sechs Jahren bei Krawallen. Sie habe zudem mit dem Einsatz von Plastikgeschossen gedroht. Hunderte Randalierer hätten sich versammelt, berichtete die Zeitung "Belfast Telegraph". Seit Beginn der Ausschreitungen wurden Dutzende Polizist*innen verletzt.
Ausschreitungen in Nordirland schon seit Ende März
Doch warum flammen die Krawalle jetzt wieder auf? Und wer steckt dahinter?
Begonnen hat die Gewaltserie am 29. März, wie die BBC und der Sender Sky News berichten. Eine Brandbombe wurde in der Stadt Londonderry auf ein Polizeifahrzeug geworfen, als Beamte versuchten, eine Gruppe von etwa 40 Menschen aufzulösen.
In den darauffolgenden Tagen kam es zu weiteren Angriffen. Am 30. März auf ein Polizeifahrzeug in Derry. Am 2. April werden bei Krawallen in Derry zwölf Polizist*innen verletzt, Brandsätze und Feuerwerkskörper werden geworfen. Auch in Belfast kommt es zu Ausschreitungen, Polizeibeamt*innen werden verletzt.
Am 7. April dann ein Höhepunkt in den Ausschreitungen: In Belfast wird ein Bus gekapert und in Brand gesetzt. Die Polizei sagt, die Unruhen seien "in einem Ausmaß, wie es in Nordirland seit Jahren nicht mehr zu sehen ist." Auch an diesem Tag werden Polizist*innen verletzt.
Seit Beginn der Krawalle am 29. März gab es fast jede Nacht Proteste in loyalistischen Hochburgen in ganz Nordirland, wobei hauptsächlich junge Leute Ziegel, Benzinbomben und Feuerwerkskörper auf Polizist*innen warfen. Hotspots sind dabei die Städte Derry, Ballymena, Carrickfergus, Newtonabbey und die Hauptstadt Belfast.

Beerdigung mit 2000 Gästen einer der Auslöser
Vorgeblicher Auslöser für die Proteste ist die Entscheidung der Polizei im März, Politiker der katholisch-republikanischen Partei Sinn Fein nach Teilnahme an der großen Beerdigung des ehemaligen IRA-Terroristen Bobby Storey im vergangenen Juni nicht wegen Verstößen gegen Corona-Regeln zu belangen.
Laut Sky News nahmen an der Trauerfeier circa 2000 Menschen teil, darunter auch die stellvertretende erste Ministerin Michelle O'Neill. Zu dem Zeitpunkt galten wegen der Covid-Pandemie aber strenge Versammlungsbeschränkungen.
Die protestantische und unionistische Partei DUP forderte den nordirischen Polizeichef sogar zum Rücktritt auf, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet. Parteichefin Arlene Foster traf ihn allerdings am Donnerstag, um die Spannungen abzubauen.
Brexit und Sonderstatus in Nordirland
Auch der Sonderstatus Nordirlands, wie er im Brexit-Abkommen festgelegt wurde, stößt in Teilen des protestantischen Lagers auf Widerstand. Die Provinz ist weiter Teil des EU-Handelsraums, um Warenkontrollen an der Grenze zum EU-Mitglied Irland zu verhindern. Stattdessen muss nun zwischen Nordirland und dem übrigen Vereinigten Königreich kontrolliert werden. Dies bedeutet, dass es de facto eine Seegrenze zwischen Nordirland und dem Rest von Großbritannien gibt. Die Unionisten lehnen diese Vereinbarung zwischen London und Brüssel ab, da sie um Nordirlands verfassungsmäßige Position in Großbritannien bangen.
Die Regelung soll verhindern, dass es zwischen Nordirland und der zur EU gehörenden Republik Irland wieder eine geschlossene Grenze gibt, da dies das Karfreitagsabkommen in Gefahr bringen würde. Doch auch noch 23 Jahre nach dem Abkommen ist die Gesellschaft in Nordirland noch immer tief gespalten in der Frage, ob man sich Irland oder dem Vereinigten Königreich anschließen sollte.
Auch Kinder und Jugendliche bei Krawallen dabei
Die nordirische Justizministerin Naomi Long machte für die Krawalle auf Twitter "nationalistische Jugendliche" verantwortlich. Nach Ansicht der Sicherheitsbehörden stecken dahinter teils militante protestantisch-loyalistische Gruppierungen, die auch im Drogenhandel tätig sind.
Es seien hauptsächlich Gruppen von 20 bis 40 Personen, die die Gewalt ausübten, so die Polizei. Allerdings hätte es auch Gruppen von mehreren Hundert Menschen gegeben. Jonathan Roberts von der Polizei in Nordirland sagte, Kinder "im Alter von 13 oder 14 Jahren" würden von Erwachsenen zu Krawallen ermutigt und unterstützt, teilweise sogar bejubelt.
Roberts sagte laut Sky News, es gebe ein "Element der Vorplanung" mit einer "gleich großen Anzahl" von Menschen von beiden Seiten der politischen Kluft. Die paramilitärische Beteiligung sei eine "aktive Untersuchungslinie", und eine mögliche "Orchestrierung" werde ebenfalls in Betracht gezogen, fügte er hinzu.
Boris Johnson "zutiefst besorgt"
Die Regierung der britischen Provinz Nordirland verurteilte am Donnerstag in einer Dringlichkeitssitzung die jüngste Gewalt in einer parteiübergreifenden Erklärung. Die Gewalt sei "völlig inakzeptabel und nicht zu rechtfertigen", heißt es in der Erklärung, die in Belfast veröffentlicht wurde. "Zerstörung, Gewalt und die Androhung von Gewalt sind völlig inakzeptabel und nicht zu rechtfertigen, welche Sorgen auch immer in den Gemeinschaften bestehen mögen", hieß es in der gemeinsamen Erklärung von britischen Unionisten, Nationalisten und anderen Parteien.
Der britische Premierminister Boris Johnson zeigte sich "zutiefst besorgt". Er und sein irischer Amtskollege Micheal Martin riefen zu "Ruhe" auf. "Der Weg, Differenzen zu lösen ist durch Dialog, nicht durch Gewalt oder Kriminalität", schrieb der britische Premier Johnson am Mittwochabend beim Onlinedienst Twitter. Auch Nordirlands Regierungschefin Arlene Foster verurteilte die Gewalt: "Das ist kein Protest. Das ist Vandalismus und versuchter Mord", erklärte Foster.
Quellen: Nachrichtenagenturen DPA, AFP und Reuters, BBC, Sky News