Jose Manuel Vivanco weiß, dass ihn so manche Regierung überhaupt nicht schätzt. Aber so etwas wie Ende vergangener Woche ist ihm noch nicht passiert: Als der chilenische Lateinamerika-Chef der angesehenen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zusammen mit seinem Stellvertreter, dem US-Amerikaner Daniel Wilkinson, abends zurück in sein Hotel in Venezuelas Hauptstadt Caracas kam, warteten dort zwanzig bewaffnete Männer in militärischen Uniformen auf ihn. Sie sagten, sie wären in den Zimmern der beiden gewesen und hätten schon einmal für sie gepackt. Sie nahmen ihnen die Handys ab, so dass sie weder ihre Botschaften noch die internationale Presse informieren konnten. Dann wurden Vivanco und Wilkinson auf den Flughafen gefahren und in ein Flugzeug nach Brasilien gesetzt.
Am Tag zuvor hatte Human Rights Watch eine 270 Seiten starke Studie der Öffentlichkeit präsentiert. Sie trägt den Titel: "Ein Jahrzehnt Chavez - Politische Intoleranz und vergebene Chancen für die Verbesserung der Menschenrechtssituation in Venezuela". Das Buch ist kein Wut schäumendes Pamphlet gegen den Präsidenten, sondern eine akribische Untersuchung, an deren Ende Hugo Chavez nicht eben als lupenreiner Demokrat da steht. Im Vergleich mit den Kraftsprüchen von Chavez, der seine politischen Gegner alles nennt, vom Speichellecker über den Arschkriecher bis hin zum Mörder, hat Human Rights Watch seinen Report geradezu mit Samthandschuhen geschrieben. Doch der großmäulige Präsident teilt zwar gerne aus. Einstecken aber kann er nicht.
Zehn der höchsten Richter sympathisierten mit Chavez
Human Rights Watch ist ganz bestimmt kein rechter Stoßtrupp, der nur einen neosozialistischen Präsidenten madig machen will. Die in 70 Ländern vertretene Organisation geht in Lateinamerika vor allem mit dem rechten kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe hart ins Gericht und hat auch dessen Förderer George W. Bush in Washington nie geschont. Für Chavez in seinen ersten Präsidentenjahren hat sie gar lobende Worte übrig. Der Mann, der als Militär 1992 einen gescheiterten Putsch angeführt hatte und sechs Jahre später ganz demokratisch zum Staatschef gewählt worden war, habe seinem Land nach nur einem Jahr an der Macht eine für lateinamerikanische Verhältnisse vorbildliche Verfassung gegeben. Das bis dahin korrupte Justizsystem sei reformiert, der Oberste Gerichtshof ausgewogen besetzt worden: Zehn der höchsten Richter sympathisierten mit Chavez, zehn mit der Opposition.
Doch dann kam im April 2002 ein Staatsstreich. Ein Teil der Armee rebellierte, nahm Chavez gefangen und setzte ihn ab. Die alte Wirtschaftselite des Landes rief einen neuen Präsidenten aus. Die Regierung in Washington klatschte schon Beifall, da kam Chavez nach 40 Stunden mit Hilfe des anderen Teils der Armee zurück ins Amt. Seither denkt der Präsident nur noch im Freund-Feind-Schema: Wer nicht für ihn ist, der ist sein Gegner und Teil einer von Washington gesteuerten Verschwörung. Es geht Chavez nicht mehr um mehr Demokratie wagen, sondern nur noch um die Sicherung und den Ausbau der eigenen Macht. Dafür, sagt Human Rights Watch, habe er "systematisch alle Kontrollmechanismen abgeschafft, die seine eigene Verfassung vorschreibt".
Eine von der Regierung unabhängige Rechtssprechung gibt es im Venezuela von heute nicht mehr. Im Obersten Gerichtshof sitzen nur noch Günstlinge des Präsidenten, in tieferen Instanzen wurden mehr als 400 Richter entlassen. Die neu eingestellten haben ihr Amt nur vorläufig inne. Fällen sie missliebige Urteile, können sie von einem Tag auf den anderen nach Hause geschickt werden. Unabhängige Gewerkschaften werden von der Regierung mit neugeschaffenen und Chavez wohl gesonnenen Kooperativen und Genossenschaften ausgehebelt. Nach einem zwei Monate dauernden Streik im staatlichen Ölkonzern PDVSA Ende 2002 wurde die Hälfte der Belegschaft einfach entlassen.
Die Namen der Streikenden wurden auf Schwarzen Listen verbreitet, damit sie auch in Zukunft keine Arbeit mehr fänden. Im Mai 2007 ging es dem Fernsehsender RCTV an den Kragen. Unter dem fadenscheinigen Vorwand, man brauche die Frequenz für einen Regierungskanal, wurde RCTV die Lizenz nicht verlängert. Sicher: Der Sender hatte sich nicht seriösem Journalismus verschrieben, sondern der platten Propaganda der Opposition. Aber eine demokratische Regierung muss auch das ertragen können.
Doch Chavez ist, was Kritik an ihm und seinem Regierungsstil angeht, ein cholerisches Sensibelchen. Egal, ob ihn die Opposition mit Holzhammermethoden angreift oder ob ihn Menschenrechtsanwälte mit feiner Feder kritisieren - er reagiert immer gleich. Kritiker zu Hause lässt er gerne mit absurden Gerichtsverfahren überziehen. Ausländer schmeißt er einfach raus. Damit beweist er nur, dass die Studie von Human Rights Watch recht hat: Es geht um politische Intoleranz in Venezuela.