Schweden Zweifel an der offenen Gesellschaft

Ihr volksnahes Verhalten wurde Anna Lindh zum Verhängnis. Doch viele Schweden glauben, dass sich ihr Land bereits mit der Ermordung Palmes 1986 verändert hat - und zweifeln, ob sich ihre so genannte offene Gesellschaft auf Dauer halten kann.

Der Mord an Außenministerin Anna Lindh hat das Selbstbild der Schweden zu einer Zeit erschüttert, in der mit dem Referendum über die Einführung des Euros eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft des Landes getroffen wird. Doch schon vor dem Überfall auf die Ministerin während eines Einkaufsbummels hatten viele Schweden gezweifelt, ob sich ihre so genannte offene Gesellschaft auf Dauer würde halten können.

Früher war es in dem skandinavischen Land selbstverständlich, dass verlorene Brieftaschen vom Finder zurückgegeben wurden und dass sich Kleinkinder gefahrlos überall bewegen konnten. Die 72-jährige Maj-Lis Jogbrant erinnert sich, dass in ihrer Jugend im Dorf Aepplaryd, 400 Kilometer südwestlich von Stockholm, Haustüren niemals abgeschlossen wurden. Heute verschließt sie sie selbst dann, wenn sie nur in ihre Scheune zum Holzhacken geht.

"Wohin gehen wir?"

"Ist es unmöglich, auf offene Art zu leben?" fragte Erzbischof Karl Gustav Hammar während eines Gedenkgottesdienstes für Lindh in der Kathedrale von Uppsala. "Wohin gehen wir?" Diese Fragen sind nicht nur in Schweden, sondern in ganz Europa relevant. Denn das Attentat auf Lindh war weder in Schweden noch europaweit das erste auf einen Politiker. 1986 wurde der schwedische Ministerpräsident Olof Palme erschossen, der Mord ist bis heute ungeklärt. 1990 wurde der SPD-Spitzenkandidat für die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl, Oskar Lafontaine, Opfer eines Attentats. Eine geistesgestörte Frau brachte ihm eine gefährliche Stichwunde am Hals bei. Wenige Monate später wurde der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble von einem geistig verwirrten Täter mit zwei Schüssen am Hals verletzt, seither ist er querschnittsgelähmt. Und 2002 wurde der niederländische Rechtspopulist Pim Fortuyn in Amsterdam erschossen.

Nicht zuletzt diese Attentate haben dazu beigetragen, dass die Distanz zwischen Politikern und Öffentlichkeit größer wurde. Doch gerade schwedische Politiker haben sich weiterhin bemüht, trotz ihrer exponierten Stellung ein ganz normales Leben zu führen. Dorfbewohnerin Jogbrant beschreibt Lindh als "nettes Gesicht, das der Welt gezeigt hat, was so nett an Schweden ist". Seit Jogbrants Jugend hat Schweden grundlegende Veränderungen erfahren.

Einwanderer haben die früher homogene Gesellschaft zu einer multikulturellen gemacht. Mütter sind häufig berufstätig, die Kinderbetreuung wird von staatlich subventionierten Kindergärten übernommen. Die Verbrechensrate stieg in den 70er und 80er Jahren an, bevor sie sich in den 90er Jahren wieder abschwächte. Doch Gewaltverbrechen wie Vergewaltigungen und Mord nahmen weiter zu. 2002 gab es 219 Fälle von Mord und Totschlag, 1995 waren es 179 - eine Steigerung von 22 Prozent.

Volksnahes Verhalten als Verhängnis

Jogbrant arbeitete 35 Jahre lang in Thailand als Missionarin. Das Schweden, in das sie vor fünf Jahren zurückkehrte, "war eine völlig andere Gesellschaft", sagt sie. "Sie ist schlechter geworden." Im nahe gelegenen Dorf Kraaketorp bezeichnet der Lehrer Bernhard Hjelmer die Vorstellung, dass schwedische Politiker keine Leibwächter brauchen, als Wunschdenken. "Was Anna Lindh zugestoßen ist, ist ein Teil der Gesellschaft, den die Politiker nicht sehen wollen", sagt der 54-Jährige.

Für ihn hat sich Schweden mit der Ermordung Palmes 1986 verändert. Vorher, sagt er, gingen König und Königin ungeschützt in Stockholm spazieren und Tage Erlander, 23 Jahre lang Ministerpräsident, nahm die U-Bahn. Dieses volksnahe Verhalten wurde Anna Lindh zum Verhängnis. "Es war genau diese Weigerung, das Leben eines stereotypischen Politikers zu führen, die sie zu solch einer populären Führungspersönlichkeit und zur möglichen künftigen Ministerpräsidentin werden ließen", schrieb die Zeitung "The Times" in einem Leitartikel. "Es wäre tragisch, wenn diese vernünftige Normalität in der Politik nicht länger möglich wäre, in Schweden und anderswo in Europa."

Susanna Loof

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