Sie moderierte die Morgenshow auf Radio Energy Zürich, "Hit Music Only" auf 100,9 Megahertz. Katrin Wilde sprach schnell und flapsig, sie machte Witze, kündigte die neusten Hits an und sagte schlechtes Wetter voraus. Und sie machte ihre Sache gut. Drei Monate lang war sie "on air", dann blieb ihr die Luft weg. Katrin Wilde war die erste deutsche Moderatorin eines Schweizer Lokalradios, sie sagte "Guten Morgen" statt "Grüezi", was von Beginn an für einigen Wirbel sorgte: Jeder wollte sie hören, Radio Energy war im Gespräch, "Hit Music Only" auf 100,9 Megahertz − und Katrin Wilde war der größte Hit von allen. Bis die Stimmung kippte.
"Katrin war einfach besser als alle Schweizer Bewerber. Jung, erfahren und talentiert", sagt Daniel Büchi, er war ihr Vorgesetzter, er hat sie ausgewählt und eingestellt. Gegen 600 Mails hat Katrin Wilde in nur drei Monaten erhalten, Rekord. Einige sollen aufmunternd gewesen sein, einige neutral. Viele mies und ein bisschen rassistisch. Büchi: "Und weitere fünfzig waren unter jeder Sau. Drei davon lebensbedrohend." Ein Auszug:
"Ihr Deutschen seid eine Epidemie."
"Frau Wilde, wenn Sie das nächste Mal in Ihr Land fahren, nehmen Sie den Viehtransporter, pferchen all Ihre Landsleute rein und bleiben, wo Sie herkommen."
"Schade, dass die Gasöfen in Deutschland abgestellt wurden. Denn da gehören Sie hin."
Sie suchte Schutz bei ihren Eltern
Nachdem man Katrin Wildes Auto demoliert hatte und sie ihre Wohnung ohne Alarmknopf nicht mehr verließ, gab sie dem deutschen Nachrichtenmagazin "Focus" ein Interview, in dem sie sich über die Schweiz beschwerte, was zu noch heftigeren Reaktionen führte. Katrin Wilde, erst 22, suchte Schutz bei ihren Eltern in Saarbrücken und kam nicht wieder. Es heißt, sie sei psychisch kollabiert, es heißt, sie brauche viel Ruhe, es heißt, sie könne jetzt nicht sprechen. Ihre Schweizer Zuhörer haben ihr den Mund gestopft. Hätte Katrin Wilde dunkle Hautfarbe, dann hätten sich wohl alle zusammengerottet, von links bis rechts, von EvB bis SVP, und sich für sie eingesetzt. Doch Katrin Wilde ist nicht schwarz, sondern deutsch - und die Empörung fiel aus. Alles blieb ruhig.
Natürlich ist Katrin Wilde ein Einzelfall. Deutsche müssen in der Schweiz nicht um ihr Leben fürchten, auch wenn in Zürich bereits zweimal ein halbes Dutzend Autos mit deutschen Kennzeichen demoliert wurden. Deutsche werden nicht beschimpft, auch wenn alle Fahrgäste den Kopf schütteln, wenn die Berliner Tram-Chauffeuse in Zürich versucht, die Haltestellen möglichst schweizerdeutsch auszusprechen: "Opernhuus" - und es doch nicht schafft. Die Schweiz ist kein Land der Xenophoben, kein "Heart of Darkness", auch wenn dieser Unsinn von ausländischen Zeitungen anlässlich der Wahlen 2007 behauptet wird.
Das Klima in der Schweiz ist rauer geworden
Doch hört man sich unter Deutschen um, unter Ärzten und Ingenieurinnen, Müttern und Grafikdesignern, dann wird deutlich: Das Klima in der Schweiz ist rauer geworden seit 2004, seit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der EU, seit sich die Zahl der Deutschen, die jährlich in die Schweiz gezogen sind, fast verdoppelt hat. Rund 25.000 kamen im Jahr 2006, 188.137 sind es insgesamt. Immer größer wird aber auch die Zahl derer, die die Koffer packen und die Schweiz wieder verlassen. Anke zum Beispiel oder die Familie Wimmer.
Anke ist groß, blond und attraktiv, sie arbeitet seit zwei Jahren in Zürich in einer Anwaltskanzlei, ihr Großvater kommt aus Zug, ihre Tante wohnt in Buchs. Anke kennt die Schweiz, und Anke will gehen. "Ich hab in London gewohnt und in Bangkok, nie hab ich mich so wenig willkommen gefühlt wie hier." Schon nach der ersten Woche in Zürich habe sie gespürt, "hier stimmt was nicht", die Atmosphäre, so kalt, so abweisend, so gestylt, kein Blickkontakt unter den Menschen, keine Begrüßung unter Fremden, man sei zwar höflich, aber sehr distanziert. Nein, belästigt wurde sie nie, "die Schweizer tuscheln lieber hinter dem Rücken". Ankes Entschluss: "Ich pendle. Ich arbeite in Zürich, aber ich wohne ab Januar in Konstanz. Ich will am Samstagmorgen in Pluderhosen Brötchen kaufen können, ohne mich schäbig zu fühlen. Ich will mich am Wochenende mit fremden Nachbarn amüsieren."
"Die Schweizer bleiben lieber unter sich"
Auch die Wimmers aus Solothurn packen ihre Koffer, sie haben genug von ihrer sozialen Isolation. Seit sieben Jahren seien sie hier, doch noch haben sie keine fünf Schweizer Wohnzimmer von innen gesehen, wenig Einladungen, wenig enge Freunde, dabei haben sie alles versucht. Als sie erfuhren, welch wichtige Rolle das Vereinsleben in der ländlichen Schweiz spielt, hätten sie zunächst mit Tennis begonnen, später traten sie dem Turnverein bei, fit wurden sie, doch integriert wurden sie nicht. "Unser Vereins-Hopping hat nichts gebracht. Klar haben wir Bekannte, aber die Schweizer bleiben lieber unter sich." Auch die Tochter, 13, hatte Mühe, Freunde zu finden. Erst als sie so sprach, wie die anderen Kinder, als sie ihr makelloses Deutsch gegen eine holprige und fehlerhafte Variante austauschte, um ja nicht aufzufallen, wurde sie geduldet.
Neben der Schwierigkeit vieler Deutscher, mit Schweizern Kontakt zu knüpfen, fällt auf, dass ihre Klagen über die Schweiz mit der Dauer ihres Aufenthalts zunehmen. "Irgendwann", sagt Robert, ein Architekt aus Zürich, "macht es einfach keinen Sinn mehr, sich anzupassen und den Duckmäuser zu spielen. Ich zahl hier ja meine Steuern." Man könne sich doch nicht jahrelang verbiegen, er habe keine Lust mehr, immer nur zu flüstern, ja nicht zu forsch aufzutreten, ja keine deutschen Klischees zu bedienen. Robert: "Wenn Deutschland ein Tor schießt, dann brülle ich eben vor Glück." Und so hört man immer mehr Deutsche öffentlich ihren Unmut über ihr Aufenthaltsland verkünden: Scheiß-Abfallsack-Prinzip, zu hohe Mieten, zu wenig Urlaub, zu viel Jugos, zu teures Kino, fades Bier, arrogante Frauen, feige Männer. Die Schweiz, was für ein schönes Land, wenn hier nur nicht so viele Schweizer wohnen würden. Und überhaupt. Als Robert in die Schweiz kam, 1992, war Rezession, er hatte ein schlechtes Gewissen, Schweizern die Arbeitsplätze wegzuschnappen, und verhielt sich sehr zurückhaltend. "Doch das ist ja nun wirklich vorbei. Wer ist denn hier noch arbeitslos?"
Einbürgerung, ohne EU-Pass zu verlieren
Giovanni Caduff ist es nicht. Er ist Aktuar des kantonalen Kirchenrates in Graubünden, in einem Kanton, in dem 37,5 Prozent der Pfarrer aus Deutschland kommen. Jeder Dritte. Die Kirche in deutscher Hand? Caduff: "Unsere deutschen Pfarrer sind sehr engagiert und bemühen sich häufig mehr als die Schweizer. Sie nehmen doch niemandem die Stelle weg. Bei uns herrscht ein Nachwuchsmangel, ohne die Deutschen hätten wir ein Problem." Ähnliches hört man aus dem Spital. Mechtild Uhl aus Bayern arbeitet als Pflegefachfrau in der Neurologischen Klinik des Unispitals Zürich, wo der Anteil an Deutschen auch schon über 50 Prozent lag. Uhl: "Ohne Rekrutierung von Personal aus Deutschland und anderen Ländern könnte die Qualität nicht aufrechterhalten werden."
Die Deutschen in der Schweiz, sie sind vergrault und packen die Koffer, oder sie sind es leid, sich jahrelang angepasst zu haben, und kritisieren und fordern und sind selbstbewusst − oder sie nehmen die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Seit Ende August können sich Deutsche hier einbürgern lassen, ohne ihren EU-Pass zu verlieren. Es heißt, die Behörden seien mit Gesuchen nur so überrannt worden. Bald sind die Deutschen offiziell Schweizer. Dann haben sie eine Stimme. Vielleicht nicht am Radio. Dafür an der Urne.