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Simon Kremer - Lost in Nahost Perfekter Optimierer: Was uns der weise König von Saudi-Arabien lehrt

Salman ibn Abd al-Aziz Al Saud, König von Saudi-Arabien
Salman ibn Abd al-Aziz Al Saud, König von Saudi-Arabien, ist offiziell ein Bücherwurm
© Bandar al-Jaloud / AFP
Kürzer, schneller, öfter: Von Büchern lesen wir nur noch die Zusammenfassungen. Serien schauen wir im Schnelldurchlauf an. Ein Meister dieser Disziplin: Der König von Saudi-Arabien.
Von Simon Kremer, Tunis

Ich würde mich gerne mal mit dem König von Saudi-Arabien hinsetzen und mit ihm über den "Herrn der Ringe" sprechen. "Salman", würde ich dann vielleicht sagen, "diese Charakterwandlung da ab Seite 750, wenn die Reise für Frodo immer schwieriger wird und Samweis sich mehr und mehr zum echten Helden entwickelt, das ist doch interessant, oder?" Und er würde auf seinem Thron sitzen und vielleicht - Achtung Spoiler! - sagen: Naja, aber am Ende fliegt der Ring ins Feuer, das Böse stirbt und das Gute hat gewonnen. Die 1236 Seiten dazwischen kann ich mir auch sparen." 

Und für Bücher ist der König von Saudi-Arabien ein Experte. Zumindest wenn man einem saudischen Literaten glaubt, der vor einiger Zeit in einer Fernsehsendung saß und von der Belesen- und Weisheit König Salmans sprach: 120.000 Bücher habe König Salman in seinem Leben schon gelesen. 

Seit 80 Jahren 4,1 Bücher pro Tag 

Für einen 83 Jahre alten Menschen ist das tatsächlich ein enormes Pensum - gesetz den Fall, dass es sich hier nicht um ausschmückende Übertreibung handelt, die man natürlich nicht unterstellen will (einmal fragte ich in Damaskus einen Mann nach dem Weg und er sagte: "Hier rechts und dann 100 Meter die Straße runter – oder 10 Minuten"). 

Simon Kremer

Simon Kremer: Ein wenig Lost in Nahost

Simon Kremer erkundete erst die Wälder des heimatlichen Sauerlandes, später die Wüsten der Arabischen Welt. Hat sich seine Naivität bis heute bewahrt und hätte deswegen beinahe mal für die syrische Militärmannschaft Fußball gespielt. Ist deswegen auch mal im arabischen Gewand durch die Sächsische Schweiz gelaufen. Kurz darauf gründete sich Pegida. Lebt jetzt mit Frau und Tochter in Tunesien und reist als Journalist durch den Nahen Osten. Musste da auf dem Fußballplatz und im Kreißsaal feststellen, dass man sich sehr schnell sehr fremd fühlen kann.

Nehmen wir also an, König Salman habe diese enorme Anzahl Bücher wirklich gelesen. Ein normales Kind lernt etwa im Alter von fünf Jahren lesen, kognitiv sind Kinder aber schon ab etwa drei Jahren fähig zu lesen, was im Fall des Monarchen wahrscheinlich ist. Also kann das saudische Staatsoberhaupt auf 80 Jahre Leseerfahrung zurückblicken. Macht bei insgesamt 120.000 Büchern 4,1 Bücher - pro Tag. 

Auch der deutsche Leser liest im Schnitt vier Sachbücher. Pro Jahr. Sagt ein Werbetext von der App Blinkist, die damit wirbt, die Essenz eines Buches so zusammenzufassen, dass man es in etwa 15 Minuten lesen kann. Oder hören: Beim Gehen oder Autofahren etwa, während man also was anderes tut. Schließlich geht es ja um Optimierung und Zeit. Und Zeit ist endlich und muss gefüllt werden. Während man also in der Schlange bei Starbucks steht und auf den Kaffee wartet noch schnell die wichtigsten Prinzipien des Managements lernen (um den Laden zu übernehmen) oder die Kunst des Kaffeeanbaus (um den Morgenkaffee aus den eigenen Bohnen zu mahlen). 

Wir führen alle ein Leben im Vorspul-Modus

Alles ist nur noch im Vorbeigehen: Coffee und Bellestristik to Go, Fast-Food-Literatur für den kleinen Hirnhunger zwischendurch. Von Büchern reichen die Zusammenfassungen. Browserplugins sorgen dafür, dass man Youtubevideos und Netflixserien auch in 4-facher Geschwindigkeit gucken kann. Das ist Binge-Watching extrem. Ein Leben im Vorspul-Modus, um alles gesehen und mitgemacht zu haben. 

Da erinnere ich mich als Kontrast noch an den letzten Geschichtenerzähler von Damaskus. Er saß in einem Café in der Altstadt auf seinem Thron. In der Ecke summte ein nagelneuer Cola-Automat. Die Männer saugten an ihren Wasserpfeifen während er dort saß, die Geschichten von tausendundeiner Nacht erzählte und die Kämpfe wort- und gestenreich mit seinem alten Krückstock mitkämpfte. Seine Zuhörer weinten theatralisch an den richtigen Stellen mit oder schrien wütend, wenn es angebracht war. Am Ende der Geschichte und des Abends gewannen meistens die Guten. Aber der Weg dahin war schließlich auch das Erlebnis. 

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