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Simon Kremer: Lost in Nahost Ein letztes Mal "Lost in Nahost": was ein Jahr, was ein Jahrzehnt – au revoir und danke

Lost in Nahost: Markt in Tunis
Der Souk (Markt) in Tunis. Simon Kremer verabschiedet sich mit der letzten Ausgabe von "Lost in Nahost" als stern-Stimme
© Flüeler / Bildagentor online / Picture Alliance
In Hamburg sagt man tschüs, in Tunis au revoir. In seiner letzten Ausgabe verabschiedet sich unsere stern-Stimme – zumindest als Kolumnist – vom Nahen Osten. Simon Kremer blickt zurück auf zehn Jahre Krise und Kultur und sagt: danke.

Jahreswechsel sind ja immer eine Zäsur, wenn dann auch noch ein Jahrzehnt vorbei geht, ist es erst recht an der Zeit, zurückzublicken. Beim Jahreswechsel vor zehn Jahren habe ich auf einem Dach in Damaskus gestanden und den drei, vier Feuerwerksraketen zugeschaut, die vom unübersehbaren Four-Seasons-Klotz in der Innenstadt in den Nachthimmel geschossen wurden. Wir grillten aus "Deutschland importierte Bratwürstchen und dachten noch nicht an den Arabischen Frühling. Auch nicht an die Konsequenzen, die es mit sich bringt, wenn man ungekühlt transportierte Schweinswurst isst.

Simon Kremer

Simon Kremer: Ein wenig Lost in Nahost

Simon Kremer erkundete erst die Wälder des heimatlichen Sauerlandes, später die Wüsten der Arabischen Welt. Hat sich seine Naivität bis heute bewahrt und hätte deswegen beinahe mal für die syrische Militärmannschaft Fußball gespielt. Ist deswegen auch mal im arabischen Gewand durch die Sächsische Schweiz gelaufen. Kurz darauf gründete sich Pegida. Lebt jetzt mit Frau und Tochter in Tunesien und reist als Journalist durch den Nahen Osten. Musste da auf dem Fußballplatz und im Kreißsaal feststellen, dass man sich sehr schnell sehr fremd fühlen kann.

Vielleicht war es am nächsten Tag aber auch das Bier, das uns der Mann, den alle ausländischen Studenten nur als "Hawaii" in ihren Handys gespeichert hatten, in schwarzen Plastiksäcken in die Wohnung brachte, das uns Bauchschmerzen bereitete. In diesem Jahr erlebe ich den Jahreswechsel in der Redaktion. Ich arbeite inzwischen als Nahost-Korrespondent und gucke mir auf arabischen Fernsehsendern das gerade ablaufende Feuerwerk aus Bagdad an: Ein Apache-Kampfhubschrauber schießt Leuchtraketen über der amerikanischen Botschaft ab, um die Demonstranten zu vertreiben, die gerade dabei sind, das Botschaftsgelände zu stürmen.

"Krise im Nahen Osten ist immer"

Ein Kollege von mir aus Kairo hat mal den Satz gesagt: "Ich habe den krisensichersten Job der Welt. Krise im Nahen Osten ist immer." Als wir vor zehn Jahren noch als Studenten Silvester in Damaskus feierten, war aber noch nicht abzusehen, wie sehr sich die arabische Welt in den kommenden zehn Jahren verändern würde.

Der arabische Frühling brach aus und fegte die langjährigen Machthaber und Diktatoren in Tunesien, Libyen, Ägypten, Jemen aus ihren Palästen. Während Tunesien als einziges Land der Region tiefgreifende demokratische Reformen eingeleitet hat und kurz vor Jahresende völlig demokratisch ein Präsident ins Amt gewählt wurde, der vorher noch nichts mit Politik zu tun hatte, herrscht in Libyen ein internationaler Krieg, Syrien ist nach Hunderttausenden Toten (die UN haben irgendwann aufgehört, die Toten zu zählen) ein komplett anderes Land, der Islamische Staat wurde gegründet und versank wieder, im Jemen herrscht nach UN-Angaben die größte humanitäre Krise weltweit und Ägypten wird nach der Machtübernahme durch das Militär von Menschenrechtsorganisationen inzwischen als ein riesiges Gefängnis ohne Meinungsfreiheit bezeichnet.

Und im vergangenen Jahr begann trotzdem eine zweite Welle der Revolution, die den Präsidenten in Algerien (immerhin das flächenmäßig größte Land Afrikas) nach 20 Jahren aus dem Amt brachte, die zu Massenprotesten im Libanon und im Irak führte – mit ungewissem Ausgang.

Noch viele Themenideen

Was ein Jahr, was ein Jahrzehnt. Trotzdem ist für mich als stern-Stimme nach eineinhalb Jahren und knapp 30 Ausgaben "Lost in Nahost" jetzt erstmal Schluss. Obwohl ich in meinem Notizbuch noch genug Themenideen gehabt hätte:

Ich hätte noch über die gängige Videoüberwachung in den Kitas schreiben können; über die "Nannycam", mit der hier viele besser gestellte ihre Hausangestellten überwachen; über den "Bring Dein Haustier mit zur Schule"-Tag, zu dem das Kind einer Bekannten aus Beirut nicht wie die anderen eine Katze oder einen Kanarienvogel mitbringen wollte, sondern die geliebte Assel aus dem Keller; über das Provisorische in unserem Leben:

Aleppo: Unter Ruinen das Leben

Angefangen vom ständig vollen Wäscheständer, der zum Möbelstück mutiert, bis zum Badelatschen an einer Schnur, der den Duschvorhang hält (nur weil man das irgendwann mal schnell so eingerichtet hat und es dann eben so geblieben ist); über die tunesische Freundin, die eigentlich ein Jahr jünger ist als in ihrem Ausweis ist, aber ihr Vater sie einfach ein Jahr älter gemacht hat, damit sie mit ihrem älteren Bruder zur Schule gehen kann; ach ja, über Schulwege hätte ich noch schreiben wollen und die SUVs, die nicht nur in einigen deutschen Großstädten die Straßen versperren, während in manchen Gegenden hier im Nahen Osten die Kinder teils zwei Stunden zu Fuß zur Schule laufen müssen; über die Hörbücher unserer Kindheit und wie rassistisch Tim von TKKG ist, wenn er "den Muselmanen" in Hammamet mal eine "echte Abreibung" verpasst.

Es hätte noch so viele Themen gegeben, sie wären skurril gewesen. Sie hätten den ein oder anderen vielleicht zum Schmunzeln gebracht, sie wären aber alle auch recht ähnlich gewesen. Im Kern ging es immer um ein kulturelles Unverständnis, um Missverständnisse, um den täglichen Kampf des Verstehens. Goethe hatte es in seinem west-östlichen Divan ja schon vor 200 Jahren ausgedrückt:

"Wer sich selbst und Andre kennt, / Wird auch hier erkennen: / Orient und Occident/ Sind nicht mehr zu trennen. / Sinnig zwischen beiden Welten / Sich zu wiegen lass’ ich gelten; / Also zwischen Ost und Westen / Sich bewegen, sei’s zum Besten!"

Denn bei allem Skurrilen ging es auch immer darum: sich auch selbst zu hinterfragen, hinter die Fassade zu blicken – und miteinander zu lachen.

Dank an die stern-Leser

In den letzten eineinhalb Jahren habe ich mich sehr über den Zuspruch und die Leserbriefe gefreut. Wenn mir die gerade in den Nahen Osten gezogene Deutsche erzählt hat, wie sehr ihr die Geschichten am Anfang auch geholfen haben, schwierige Situationen zu bestehen. Dass man nicht allein ist mit seinem täglichen Kampf und dem andauernden Verzweifeln (an sich selbst). Das mag anstrengend sein, im Alltag aber es hilft, sich immer wieder selbst zu hinterfragen, Bekanntes nicht als selbstverständlich hinzunehmen, um so nicht stehen zu bleiben – und verbittert zu werden. Wobei ich auch dazu schreiben wollte: dass ich irgendwann als ätzender alter Opa auf meiner Fensterbank lehnen werde, um über alles zu meckern, weil es manchmal auch einfach unfassbar anstrengend ist, sich anzupassen und zu hinterfragen.

Da war der Tunesier aus Berlin, der zur Ausgabe über die Handwerker in Tunis schrieb: "Jedes Wort stimmt zu 100 Prozent. Leider. Aber auch wir, die wir in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, vergleichen immer wieder mit Berlin. Es gibt auch viele andere Bereiche, wo Berlin schlecht abschneidet. Daher tröstet es einen." Und da ist der Syrer, der sich bei den Beschreibungen seiner Heimatstadt Aleppo zurückversetzt fühlt in bessere Tage. Vielen Dank dafür.

In der arabischen Welt sagt man ja nicht nur "au revoir" oder "Gehe in Frieden", wenn man jemandem eine Gute Nacht wünscht, sagt man nicht einfach "Gute Nacht". Man sagt: "Mögest Du zu besseren Nachrichten aufwachen."

wue

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