Wie geht es weiter mit den Menschen- und Frauenrechten in Afghanistan? Susanne Schröter ist Professorin am Institut für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und beschäftigt sich in ihrer Forschung mit genau diesen Fragen. Dem stern hat sie unter anderem erklärt, wie es in dem Land weitergehen könnte.
Frau Schröter, die Taliban gaben sich auf ihrer ersten Pressekonferenz sehr offen. Frauen sollen arbeiten dürfen, zuletzt hatte eine Frau sogar ein Interview mit einem ranghohen Taliban im Sender Tolo News geführt. Was ist davon zu halten?
Das ist tatsächlich eine Überraschung, denn zwischen 1996 und 2001, als die Taliban zuletzt regierten, haben sie den Frauen das Leben ziemlich schwer gemacht. Berufstätig waren die allerwenigsten. Einige Frauen waren im medizinischen Bereich tätig, aber im Prinzip wurde mit allen Mitteln verhindert, dass Frauen einer normalen Arbeit nachgehen. Sie durften nicht einmal ihre Häuser ohne männliche Begleitung verlassen.
Sind die Taliban in den letzten zwanzig Jahren moderner geworden?
Die jetzigen Aussagen kommen zwar überraschend, allerdings muss man genau hinhören. Es heißt, Frauen dürften im medizinischen Sektor, im Parlament oder bei der Polizei arbeiten, solange es nicht der Scharia widerspricht.
Was sehen die Regeln der Scharia genau vor?
Das kommt darauf an, wie man die Scharia definiert. In der Vergangenheit war das Islamverständnis der Taliban selbst für islamistische Verhältnisse extrem. Für Männer wurde die Bartlänge festgelegt und Frauen durften nur in Burka und männlicher Begleitung auf die Straßen. Wie auch immer die Scharia in Afghanistan ausgelegt wird: Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass die Menschenrechte und besonders die Frauenrechte bestehen bleiben. Das sieht das islamische System, das den Taliban vorschwebt, nicht vor. Allerdings sind sie darauf angewiesen, dass Frauen zumindest im Gesundheitswesen arbeiten, denn laut Scharia dürfen Männer keine Frauen behandeln. Polizistinnen könnten zudem bei Frauendelikten eingesetzt werden. Der IS hatte auch eine weibliche Polizeieinheit.
Besteht die Gefahr, dass das Land in frühere Verhältnisse aus den 1990er Jahren zurückfällt?
Das islamische Emirat wird ein islamischer Staat sein, das heißt das Recht wird sich am Koran, den prophetischen Überlieferungen und deren Interpretationen orientieren. An die Stelle der Menschenrechte treten islamische Rechte, die die von Frauen, religiösen Minderheiten oder liberalen Muslimen stark beschneiden. Es ist zu erwarten, dass die Taliban islamische Körperstrafen wie Auspeitschungen und Steinigungen praktizieren werden.
Wenn sich kaum etwas ändert, warum machen sich die Taliban dann die Mühe und präsentieren sich verhältnismäßig liberal und friedvoll?
Tatsächlich haben sie einige Dinge gesagt, die sie so vor zwanzig Jahren noch nicht gesagt hätten. Zum Beispiel, dass sie Personen, die gegen sie waren, verzeihen. Oder dass von Afghanistan keine Gefahr für andere Länder mehr ausgehen wird. Dafür gibt es zwei gute Gründe. Zum einen brauchen die Taliban den Frieden, um ihren islamischen Staat in Ruhe aufbauen zu können. Es ist andererseits auch ein Signal an die westlichen Staaten, nach dem Motto: „Wir lassen euch in Ruhe, wenn ihr nicht mehr bei uns interveniert.“
Um Frieden mit dem Westen wird es den Taliban dabei aber nicht gehen, oder?
Anders als andere Terrororganisationen, wie Al Quaida, geht es den Taliban nicht darum zu expandieren und den Dschihad weltweit zu verbreiten. Die Taliban sind eine nationale Bewegung. Dem Westen gegenüber haben sie bereits angedeutet, dass sie Entwicklungshilfe haben möchten und dafür bestimmte Garantien geben könnten. Afghanistan ist ein bitterarmes Land und was die Taliban jetzt vor allem brauchen, ist Geld.
Das hört sich nach Erpressung an.
Es ist eher ein Deal unter guten Bedingungen, weil die Taliban momentan in einer starken Verhandlungsposition sind. Deutschland hat zwar schon die Entwicklungshilfen ausgesetzt, andere Länder, wie Dänemark, aber nicht. Auf lange Sicht wird es wieder Beziehungen zwischen dem Westen und Afghanistan geben, um Russland und China das Feld nicht gänzlich zu überlassen. Denn geostrategisch und wegen seiner Ressourcen ist Afghanistan wichtig, nicht nur für Zentralasien.
Dann hat der Westen praktisch versagt.
Es ist schwierig von außen ein neues Gesellschaftssystem aufzubauen, wenn die nötige Akzeptanz in der Bevölkerung fehlt. Die Programme waren nicht überzeugend genug, um die Afghanen dazu zu bewegen, sie selbstständig fortzuführen. Das betrifft auch den Aufbau der Armee und der Polizei. Die Amerikaner waren immer für die Sicherheit zuständig und als diese abgezogen wurden, sind die Soldaten einfach übergelaufen. Das ist schon ein krachendes Scheitern. Die Machtübernahme war auch deshalb nicht gewaltsam, weil es keinen Widerstand gab. Dabei wurde offensichtlich, dass man den Rückhalt der Taliban deutlich unterschätzt hat.
War das nicht viel früher absehbar?
Dafür hätte man sich in den vergangenen Jahren genau hinsehen müssen, wie die afghanische Gesellschaft aufgebaut ist. Staatlichkeit im modernen Sinn existiert nicht, stattdessen ethnische und familiäre Loyalitäten und ein starkes Bedürfnis sich als Fremdherrschaft empfundenen ausländischen Einflüssen zu widersetzen. Man hätte es besser wissen können, war aber von der eigenen Überzeugungskraft zu sehr eingenommen und dachte, dass Geld und die Idee von einem demokratischen Staat ausreichen würden.

Demokratie und Menschenrechte haben in dem Land also keine Chance mehr?
Es gibt eine städtische Elite, die hinter der Idee einer freien Gesellschaft und vor allen den Freiheitsrechten des Individuums steht. Es ist eine kleine Gruppe von Menschen, die gerne ein modernes Afghanistan hätten. Aber einer viel größeren Masse, vor allem aus dem ländlichen Raum oder aus religiös geprägten Kreisen, war das alles immer suspekt. Für sie sind Menschenrechte westliche Werte, die abgelehnt werden, weil sich die Bevölkerung nicht als westlich sieht. Das ist übrigens nicht nur in Afghanistan der Fall. 1990 wurde von islamischen Staaten die Kairo-Erklärung der Menschenrechte im Islam herausgebracht, die alle Rechte unter den Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der Scharia gesetzt hat. Spätestens seitdem wissen wir, dass es mit der Akzeptanz der universellen Menschenrechte in der islamischen Welt nicht weit her ist.
Was bedeutet das jetzt für die Zukunft?
Afghanistan wird vermutlich einen Teil der demokratisch gesinnten Elite verlieren wie der Iran im Jahr 1979. Viele Menschen, die für westliche Organisationen gearbeitet haben, wollen ausreisen, unter anderem aus Angst, ermordet zu werden, aber auch, weil sie in Freiheit leben möchten.
Im Westen wird jetzt diskutiert werden, wie man mit der neuen Situation umgeht – nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Bezug auf andere Auslandseinsätze wie beispielsweise in Mali.