Der Anfang vom Ende beginnt Montag früh um sechs. Plötzlich sind sie da, die Einschläge. Der Krach der Explosionen ist so laut wie noch nie. Mitten im Stadtzentrum von Bagdad, mitten im Präsidentenpalast von Saddam Hussein am westlichen Ufer des Tigris, dem Symbol seiner blutigen, mehr als drei Jahrzehnte dauernden Herrschaft, schlagen die Geschosse ein. Kein Zweifel. Die Amerikaner sind da.
Die Schlacht um den Palast
spielt sich direkt vor den Augen der internationalen Presse ab, die im gegenüberliegenden Hotel Palestine untergebracht ist. Drüben, am Tigrisufer, taucht der erste USAbrams-Kampfpanzer auf. 69 weitere folgen. Sie rollen über den gewaltigen Hof des Palastes, in dem der Diktator einst seine Paraden abhielt. Bradley-Schützenpanzer folgen. US-Soldaten rennen geduckt übers Gelände. Ein Erdkampfjäger des Typ A-10 kreist über der Szenerie.
Eine Gruppe irakischer Soldaten ergreift die Flucht. Manche springen in den Tigris, um sich in Sicherheit zu bringen. Längst ist das irakische Abwehrfeuer verstummt. Die Amerikaner ziehen sich zwar bald wieder zurück. Aber im Fernsehen verkündet ein stolzer Hauptmann namens Chris Carter kurz darauf stolz: "Wir haben den Hauptpalast des Präsidenten in der Innenstadt Bagdads erobert. Ich glaube, diese Stadt gehört nun verdammt noch mal uns." Die Attacke auf den Palast war der größte Schock, den die Amerikaner nach knapp drei Wochen Krieg dem Regime von Saddam Hussein versetzen konnten. Mochte dessen Informationsminister auch vor den Kameras weiter damit drohen, dass die USA in der Falle säßen und ihre Soldaten bald abgeschlachtet werden würden - Bagdad schien kurz vor dem Fall. Es war ein Angriff wie aus dem Lehrbuch der so genannten Stecknadel-Strategie, bei der die Amerikaner vor allem auf die psychologische Wirkung bauen. Überfallartige Angriffe sollen die Übermacht der Alliierten und die Ohnmacht der Iraker demonstrieren und möglichst viele Soldaten dazu bewegen überzulaufen.
Schon zwei Tage zuvor war eine Kolonne
von 26 Abrams-Panzern und zehn Bradley-Kampffahrzeugen nahezu unbehindert von rechts und links der Wege eingegrabenen irakischen Soldaten und Milizen über die Hauptverkehrsader vom Flughafen Richtung Zentrum vorgedrungen. Drei Stunden dauerte der Ausflug. 2000 irakische Kämpfer sollen bei diesem Angriff ums Leben gekommen sein. Die Panik, die dabei entstand, war nicht nur einkalkuliert. Sie war erwünscht.
Vor allem in den Krankenhäusern spürt man, wie sich die Schlinge um die Hauptstadt immer weiter zuzieht. Bis zu hundert Patienten werden jetzt stündlich eingeliefert. Soldaten, freiwillige Kämpfer, Kinder, Frauen und Alte. Das Sirenengeheul der Krankenwagen gehört inzwischen zur Geräuschkulisse der Stadt wie das Krachen der Bomben. Männer stöhnen vor Schmerz, wenn sie auf die Karren des al-Kindi-Hospitals gezerrt werden. Manche sind schon zum Schreien zu schwach. Andere kommen tot hier an. Die Leichensäcke aus Plastik sind längst ausgegangen.
Jetzt ist eingetreten, was Ärzte der Hauptstadt schon seit Wochen befürchtet haben. Die Kliniken der 7,3-Millionen-Kapitale sind überlastet. Es fehlt an Penizillin, an Schmerzmitteln, an Beatmungsgeräten. "Wir sind mit der Zahl der Verletzten völlig überfordert", sagt Osama Fakrih. Seit Kriegsbeginn ist der Chirurg permanent im Einsatz. Er schläft nur noch im Ruheraum des Hospitals, sobald es die Zeit zulässt, und wechselt die grüne OP-Tracht nicht mehr. Am Sonntag haben die Krankenhäuser in Bagdad alle Patienten nach Hause geschickt, die nicht unbedingt behandelt werden müssen.
Gerüchte schwirren durch die Stadt,
die Straßen sind fast gespenstisch leer. Die Bevölkerung teilt sich in jene, die den Fremdsendern der Amerikaner und ihren Erfolgsmeldungen glauben. Die andere Hälfte hält sich an die Version des Informationsministers, der immer noch unverdrossen behauptet, man habe die US-Soldaten am Flughafen in die Flucht geschlagen.
Die 22-jährige Studentin Reem hat in der Nacht versucht, sich mit Hilfe des Radios einen Überblick zu verschaffen. Jetzt hastet sie im Stadtteil Aadhamiya zum Gottesdienst in der Abu-Hanifa-An-nu'man-Moschee. "Ich hatte furchtbare Angst. Ich dachte, ich wach auf, und hier herrscht das komplette Chaos. Straßensperren, überall Gefechte, alles verwüstet. Aber es ist gar nicht so. Ich bin total erstaunt", sagt sie.
Wie viele andere sucht sie in diesen Tagen in der Moschee nicht nur spirituelle Orientierung. Sie will erfahren, was vor sich geht. "Wie Diebe kamen die Amerikaner angeschlichen und haben unseren Flughafen für eingenommen erklärt", predigt Imam Abdul Ghafour al Qasi zu den Gläubigen. "Aber unsere kräftigen irakischen Kämpfer konnten sie bezwingen." Die Sender des "Aggressors" wollten durch Falschmeldungen lediglich die Einheit der Iraker schwächen. "Die, die falsche Nachricht verkünden, sind Sünder. Die einzige Wahrheit kommt von den Medien des Irak."
Am Montag erscheint zum ersten Mal die Tageszeitung "Babel" nicht mehr, herausgegeben von Saddam Husseins Sohn Uday. Die Radios künden weiter vom heldenhaften Widerstand der irakischen Soldaten weit vor der Stadt, während in Wahrheit Maschinengewehrsalven bereits seit Sonntag selbst mitten im Zentrum zu hören sind.
Immer mehr Menschen machen sich in ihren Autos auf den Weg aus der Stadt, die Fahrzeuge voll geladen mit Kindern, Taschen, Bettzeug. In den Verkehr reihen sich irakische Milizen und Soldaten ein, die sich auf den Ladeflächen von Lastwagen durch die Stadt karren lassen. Aus ihren Autos schallt Marschmusik. Mit Zeige- und Mittelfinger formen die Soldaten das Zeichen des Sieges und schießen immer wieder in die Luft.
Ratlos stehen viele Menschen vor ihren Häusern
und wissen nicht, was sie tun sollen. An der Karada-Straße beraten sich die Oberhäupter von sieben Familien. Sie haben schon alles gepackt. Doch keiner weiß, ob die Straßen noch befahrbar sind. Meysun Nejib, 42, Mutter von sechs Mädchen sagt: "Ich möchte bleiben, aber die Kinder weinen vor Angst. Letzte Nacht wackelte unser Haus."
Seit Sonntag herrscht auch Ausgangssperre ab18 Uhr. Die Militärs haben alle Brücken raus aus der Stadt gesperrt. Sie wissen, dass die Zivilisten der beste Schutzschild gegen die Angreifer sind. Sie wollen alles tun, um einen Straßenkampf zu vermeiden. Noch nie seit Beginn des Krieges waren in Bagdad so viele irakische Soldaten zu sehen. Noch nie waren so viele Panzer in der Stadt unterwegs wie jetzt.
Kämpfer der Republikanischen Garden,
zu erkennen an den roten Dreiecksabzeichen, haben Häuser beschlagnahmt. Vor allem in den Vororten, die von den Bewohnern bereits vollkommen verlassen sind. Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn sind auch die schwarz gekleideten Fedayin-Kämpfer in der Stadt zu sehen, bewaffnet mit raketengetriebenen Granatwerfern, die sie nun offen spazieren tragen. Männer in Zivil heben neben den Straßen Schützengräben aus, errichten Barrikaden, um Kreuzungen zu kontrollieren. Machtlos aber müssen sie zusehen, wie die Drohnen der amerikanischen Luftwaffe gemächlich über ihre Stadt fliegen und dabei genaue Bilder der Lage direkt ins Gefechtszentrum nach Doha liefern, wo die nächsten Angriffe ausgeklügelt werden.
Das Regime tut noch immer alles, um die Journalisten von seiner Standfestigkeit zu überzeugen. So karrt man noch immer den Pressetross in Bussen zu der strategisch wichtigen Kreuzung an der Schnellstraße 8, nur zehn Kilometer vom Zentrum entfernt: Dort stehen Soldaten auf dem US-Kampfpanzer M1-Abrams, der beim ersten Vorstoß der Amerikaner tags zuvor liegen geblieben ist. Sie haben ihre Gewehre in die Höhe gereckt. Sie jubeln und skandieren: "Unser Herz, unser Blut, unsere Seele für Saddam!"
Einer der Soldaten heißt Ahmad Khudayr.
Er erzählt, dass hier zwei Stunden erbittert gekämpft worden sei. Aber die Leichen seiner Kameraden sind längst weggeräumt. Allein hier sollen es Hunderte gewesen sein. Die Spuren der Verwüstung zeugen von einem furchtbaren Gemetzel. Dutzende irakische Fahrzeuge und Artilleriekanonen sind zerstört. Zerknäulte Blechteile, dicke Platten von zerstörtem Beton, Asphalttrümmer, ein völlig zerschossener Autobus liegen herum. Aber Ahmad Khudayr behauptet: "Wir werden bis zum Tod kämpfen, das ist ein Dschihad, wir werden alle Feinde eliminieren." Wie das gelingen soll, weiß keiner.
Doch mit jedem Kriegstag ist die Wut gegen die Angreifer bei vielen nur größer geworden. Weshalb die Amerikaner Bagdad immer noch unablässig bombardieren, versteht keiner mehr. Denn mangels neuer Ziele greift die US-Luftwaffe wieder und wieder dieselben Paläste und Ministerien an, obwohl sie ohnehin schon vor Monaten leer geräumt worden sind.
"Nach einer Nacht heftiger Bombenangriffe wollen die Menschen zuallererst von Freunden und Verwandten erfahren, ob es denen gut geht", sagt Roland Huguenin-Benjamin, als Vertreter der Internationalen Roten Kreuzes vor Ort. "Weil das seit einigen Tagen nicht mehr möglich ist, sind die Leute aufgebracht." Unvergessen sind die Bombenattacken auf zwei Marktplätze in den vergangenen Wochen, bei denen Zivilisten gleich dutzendweise starben.
Rukiyah Majid ist so verängstigt,
dass sie sich seit Tagen nicht mehr aus dem Haus traut. Die 43-Jährige hat die Wände ihrer Wohnung mit Koran-Versen dekoriert. Ihr Mann wurde 1986 im Iran-Irak-Krieg getötet. Ihr ältester Sohn fiel im Golfkrieg 1991. Vor zwei Tagen ist ihr Onkel gestorben. Herzversagen. "Es war der Schock nach einem Bombeneinschlag", sagt sie. Sie ging sie nicht mal zur Beerdigung. "Ich kann die Leute nicht verstehen, die jetzt noch draußen herumlaufen."
Viele sind es ohnehin nicht mehr. In der Saadun-Straße, sonst eine der geschäftigsten Straßen der Stadt, sind nur noch wenige Händler zu sehen. Sie bieten Plastikfässer, Wasserkanister und Öllampen an. Die Menschen bereiten sich offenbar auf eine lange Zeit der Belagerung vor. Noch sind die Lager der Händler voll. Und bis jetzt kam Nachschub.
Unbeeindruckt von der Einnahme des Saddam-International-Flughafens
hat die Niederlassung von Iraqi Airways am Montagmorgen noch immer geöffnet. Ein Stück die Straße hinab bewacht Muhammad Ali, der Chef des Hotel Atlas, einen kleinen Arbeitstrupp, der für ihn die Fenster seines Restaurants zumauert. Er beteuert, er habe keine Furcht vor Straßenkämpfen und Plünderungen. Die Scheiben seien durch die Druckwelle einer Bombe geborsten, und Glas sei im Augenblick nirgends zu bekommen.
Geschichten von Taxifahrern, die aus dem Süden kommen und von ausgebrannten Autos und zerschossenen Panzern erzählen, tut er als Gerüchte ab. Berichte von einem Lastwagen im Yarmuk-Distrikt, auf dem Leichen gestapelt gewesen seien, sind Hirngespinste für ihn. Der Hotelier lächelt nur milde. Natürlich hört auch er die heftigen Kampfgeräusche überall um sich herum. Für ihn sind sie freilich ein Indiz, dass die Amerikaner triumphal vertrieben werden. Am Hotel Palestine huschen kleine Gruppen bewaffneter Männer vorbei, verschwinden hinter Sandsackstellungen und in Gräben. Polizeiautos mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene fahren vorbei. Polizisten und Milizionäre skandieren Durchhalteparolen für die Kameras. In der Lobby flimmert der Fernseher. Auf der Mattscheibe preisen Sänger ihren Führer Saddam. Mal ballert er mit einem Gewehr, mal kaut er auf einer Zigarre, mal reitet er auf einem Schimmel. Dazwischen immer wieder Verlautbarungen des Miltärs mit zahlreichen Erläuterungen für den erfolgreichen Guerillakampf. "Warte nicht, bis irgendein Befehl kommt, wenn du einmal von Kommunikation und Infrastruktur abgeschnitten bist", lautet eine Weisung. "Jeder Iraker ist sein eigener Kommandeur und handelt nach eigenem Belieben."
Vermutlich sind es die letzten Zuckungen
eines untergehenden Regimes. Auf Kurzwelle lauschen die Einwohner Bagdads gespannt den Berichten über die Nachkriegspläne der Amerikaner. Viele Iraker sind skeptisch, ob sich irgendetwas zum Besseren wenden wird. Zwar trauert kaum einer dem Diktator Saddam Hussein nach, wenn er einmal beseitigt ist. Aber sie haben wenig Hoffnung, ihre eigene Zukunft selbst bestimmen zu können. Nach 30 Jahren der Angst und Unterdrückung wagt noch niemand öffentlich, seine Meinung frei zu äußern, obwohl die US-Panzer auf der anderen Seite des Tigris mit bloßem Auge zu erkennen sind. Draußen wabert milchiger Nebel. Es riecht nach Pulverdampf. Gerüchte machen am Montag die Runde, die Amerikaner würden sich bereits am westlichen Ufer des Tigris frei bewegen, hätten Kontrolle über das al-Rasheed-Hotel und die angrenzenden Ministerien. Eine Bombe hat wieder einmal das völlig zerbombte Hauptquartier der irakischen Luftwaffe getroffen. Davor steht immer noch unversehrt die Statue von Saddam Hussein. Die Frage ist nur, wie lange.
Tim Judah und Thomas Seifert, Bagdad/ Joachim Rienhardt