Die Demonstranten versammelten sich an zehn verschiedenen Treffpunkten und zogen in einem Sternmarsch zur zentralen Abschlusskundgebung vor dem Amtssitz von Präsident Chen Shui Bian. Auch Chen selbst schloss sich dem Protestmarsch an. Die Organisatoren der Veranstaltung hatten eine Million Menschen erwartet. Nach Schätzung der Polizei kamen aber nur etwa 230.000 Menschen zusammen. Der Präsident hat Peking mehrfach scharf kritisiert und tritt entschieden für die Eigenständigkeit Taiwans ein. Das vor zwölf Tagen vom chinesischen Volkskongress verabschiedete Anti-Abspaltungsgesetz droht Taiwan mit Krieg, sollte die Insel ihr Streben nach formeller Unabhängigkeit von Festland-China verstärken. Taiwan erkennt die Regierung in Peking seit der Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1949 nicht mehr an. Das Anti-Abspaltungsgesetz war international auf Kritik gestoßen.
"Schützt Taiwan"
"Was wollen wir von China? Frieden!" skandierte eine Gruppe von Demonstranten unter Führung des Abgeordneten Bikhim Hsiao. Viele Kundgebungsteilnehmer trugen grüne Stirnbänder mit der Aufschrift "Demokratie, Frieden, schützt Taiwan". Dieser Aufruf richtete sich auch an die USA und Japan, die wichtigsten Verbündeten Taiwans. Mehrere Kundgebungsteilnehmer brachten amerikanische und japanische Flaggen oder Plakate von US-Präsident George W. Bush und dem japanischen Ministerpräsidenten Junichiro Koizumi mit. Eine Frau hatte sich sogar als Freiheitsstatue verkleidet. Die Organisatoren hatten die Kundgebung zum "Karneval des Friedens" erklärt.
Zahlreiche Demonstranten kamen mit Reisebussen von der gesamten Insel nach Taipeh. Die Polizei sperrte die gegenüber dem Amtssitz des Präsidenten gelegene Parteizentrale der oppositionellen Nationalisten vorsorglich ab, um sie vor Übergriffen zu schützen. Die Nationale Volkspartei Kuomintang (KMT) tritt für engere Beziehungen zu China ein.
Warten auf Reaktion Chinas
Taiwans Präsident, der aus Rücksicht auf China keine Rede hielt, hatte das vor knapp zwei Wochen vom Volkskongress in Peking verabschiedete Gesetz im Vorfeld als "Aggressionsgesetz" verurteilt. Es ermächtigt Chinas Armee zu "nicht friedlichen Mittel und anderen notwendigen Maßnahmen", falls sich Taiwan vom Festlandchina abspalten und "die Möglichkeiten für eine friedliche Wiedervereinigung völlig ausgeschöpft sein sollten". Chen Shui-bian hatte vor dem Massenprotest erklärt, die Zukunft Taiwans könne nicht von 3000 nicht gewählten Volkskongressdelegierten entschieden werden, sondern nur von den 23 Millionen Taiwanesen selbst.
Der Vorsitzende des für Kontakte zu Peking zuständigen Regierungsausschusses, Joseph Wu, zeigte sich unterdessen zuversichtlich, dass China einlenken werde. "Peking hat verstanden, dass das Anti-Abspaltungs-Gesetz international Entrüstung hervorgerufen hat. Jetzt müssen wir abwarten und sehen, was sie tun, um den Schaden wieder gut zu machen", sagte Wu.