Ein Satz - und die Stadt ist nicht mehr dieselbe, das Land ist ein anderes. "Das Militär putscht!", ruft ein Freund hinein in die Weißweinstimmung auf der Dachterrasse. Freitagabend, halb elf, wir hatten Pizza bestellt und getrunken. Und uns bloß darüber gewundert, dass seit einer Weile ein Armeehubschrauber über uns kreiste.
Von der Terrasse aus kann man die Bosporusbrücke sehen, die einige türkische Soldaten schon gesperrt hatten; wenig später dann Schüsse, wahrscheinlich vom Taksim-Platz. Dem Ort, zu dem die Istanbuler schon immer zogen, wenn sie protestierten oder feierten. Der Taksim-Platz ist ein Symbol, wer ihn beherrscht, hat das Sagen. Offenbar sind es nun Soldaten.
Die Armee besetzt den Atatürk-Flughafen und das Staatsfernsehen, alles in weniger als einer Stunde, und Recep Tayyip Erdogan kann sich nur noch per Videochat melden. Er ruft die Moderatorin des Privatsenders CNN Türk an, die zeigt den Präsidenten auf ihrem Handydisplay.
Meint es das Militär ernst, dann gewinnt es
Ein Nachbar bringt Baklava und fragt, ob wir genügend Wasser haben. Unsere Gäste diskutieren, ob sie nach Hause sollen oder nicht, es gilt schon Ausgangssperre. Und Twitter meldet: Schussgefechte in der Fußgängerzone. Jetzt nach Hause oder nie, sagt einer; wer weiß, wie lange die Ausgangssperre geht. Vielleicht Tage. Die anderen bleiben bei uns in der Wohnung, schauen Nachrichten, fassungslos.
Für Europäer ist das ein ganz neuer Gedanke: dass sich eine Regierung die Autorität wieder erkämpfen muss. Wie eigentlich? Meint es das Militär ernst, und so sieht es ja aus an diesem Abend, dann gewinnt es. Ernst meinen heißt: Gewalt. Tote. Werden die Soldaten auf Zivilisten schießen, wie in Ägypten, werden sie dazu bereit sein?
Erdogan ruft seine fanatischen frommen Massen auf die Straßen, die Muezzine der Moscheen singen die ganze Nacht hindurch. Aus Kasimpasa, wo Erdogan aufwuchs, ziehen gleich Hunderte hoch zum Taksim-Platz. Dort warten kaum 20 junge Wehrpflichtige auf sie, die sich mehr vor den Demonstranten fürchten als die vor ihnen.
Erdogan-Anhänger umzingeln die Soldaten. Es kippt.
Um zwei Uhr sind die Soldaten umgeben von Erdogan-Anhängern, die ihren Präsidenten bejubeln. Ab und zu schießen die Soldaten in die Luft, die Menschen bleiben trotzdem auf dem Platz.
Und da kippt es. Wie will die Armee putschen, wenn sie nicht einen Panzer auf den Taksim-Platz fährt und nur einen einzigen zum Flughafen? Wie kann es sein, dass die Erdogan-treuen Demonstranten in den Staatssender eindringen können und ihn den Putschisten einfach wieder nehmen?
Kaum Soldaten sind auf den Straßen zu sehen, dafür immer noch bewaffnete Polizisten. Gegen die das Militär, in Istanbul zumindest, nichts unternimmt. Neue Gerüchte kommen auf, es heißt, der Putsch sei vor allem von der Luftwaffe ausgegangen. Nicht die ganze Armee trage ihn mit. Den Generalstabschef, den obersten Soldaten, nahmen die Putschisten als Geiseln.
Zivile Demonstranten gewinnen gegen Militär-Putscher
Um drei Uhr landet Erdogan in einem Learjet auf dem Atatürk-Flughafen, ungestört von der Luftwaffe. Tausende erwarten ihn. Gleich kündigt er an, die Armee werde er nun säubern, alle am Putsch beteiligten würden einen hohen Preis zahlen. Auf Twitter erscheint ein Hashtag: Idamistiyorum, Ich will die Todesstrafe. Die hatte Erdogan damals abgeschafft, als er Premierminister wurde und in die EU wollte. Jetzt redet sogar der Vize-Parteichef seiner AKP von Hinrichtungen.
Gegen vier führt die Polizei am Taksim-Platz die Soldaten ab, unter dem Jubel der Demonstranten. Die stürzen sich auf die Wehrpflichtigen, als wäre der Putsch von denen ausgegangen. Kampfjets fliegen ganz tief über die Menge und durchbrechen das Schallloch, sodass es sich anhört wie eine mächtige Explosion. Als wollten die Piloten den Erdogan-Fans wenigstens noch Angst machen.
Angst kann man haben, um diese Stadt, um dieses Land.