Der Überfall Russlands auf die Ukraine fordert unter der Zivilbevölkerung gewaltige Opfer. Die Streitkräfte von Kremlchef Wladimir Putin schießen mit Raketen und Artillerie auf Wohngebäude, Schulen, Krankenhäuser oder Bahnhöfe und legen teilweise ganze Stadtviertel oder Ortschaften in Schutt und Asche. Dabei setzen sie auch Streumunition ein, die laut dem — von Russland nicht unterzeichneten — Oslo-Übereinkommen von 2010 wegen ihrer besonderen Gefahr für die Zivilbevölkerung verboten ist. Nach Zählung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte wurden seit dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar bis einschließlich 30. Mai 4113 Zivilisten getötet und 4916 verletzt. Das Kommissariat geht aber davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen deutlich höher sind.
Kliniken in Ostukraine stark unter Druck
Bei der Versorgung der Verletzten engagiert sich auch die internationale Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen). Mithilfe eines speziell ausgerüsteten Zuges, in dem es sogar eine Intensivstation gibt, bringen MSF-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter Verwundete aus den umkämpften Gebieten im Osten der Ukraine zur Behandlung in den sichereren Westen des Landes.
Seit Beginn des Krieges stünden die Krankenhäuser im Osten unter starkem Druck, berichtet der MSF-Koordinator für den Evakuierungszug, Yasser Kamaledin, der Nachrichtenagentur Associated Press. "Die Idee dieser Aktion ist es, die Krankenhäuser, die näher an der Frontlinie liegen, zu unterstützen und Bettenkapazitäten freizumachen, damit sie mehr Patienten aufnehmen können, die von den Angriffen, dem Konflikt, betroffen sind, aber auch andere chronisch kranke Patienten." Fast 600 Menschen seien seit dem Start der Zugfahrten am 31. März in Krankenhäuser in der Westukraine gebracht worden.
Zu den Evakuierten gehört auch Mykola Pastukh. Er wurde am vergangenen Samstag in der Nähe von Sjewjerodonezk durch eine Mörsergranate verwundet, als er versuchte, humanitäre Hilfe in die heftig umkämpfte Stadt zu bringen, wie AP berichtet. In seinem Körper steckten immer noch Schrapnelle, erzählte der 40-Jährige — den rechten Arm in einer Schlinge — der Nachrichtenagentur. Er müsse operiert werden, aber das Krankenhaus im ebenfalls umkämpften Nachbarort Lyssytschansk sei einfach überfordert. Also werde er für die Operation nach Lwiw in der Westukraine gebracht.
Blut an Putins Schuhen: So sehen internationale Zeichner den Krieg in der Ukraine

Am deutlichsten zeige sich der Druck auf die Krankenhäuser im Osten direkt nach einem Angriff, wenn ein Verletzter nach dem anderen eingeliefert werde, schreibt AP. In der vergangenen Woche hätten Sanitäter einen Patienten mit schweren Kopfverletzungen in das Krankenhaus der Stadt Pokrowsk gebracht, während die Ärzte dort bereits unter größter Anspannung die Patienten versorgt hätten, die beim Einschlag von zwei Raketen verwundet worden seien. Es habe nur eine Handvoll Verletzte gegeben, aber das Krankenhaus sei überlastet und arbeite nur mit etwa der Hälfte des früheren Personals. Und das in Räumen, in denen Sandsäcke vor vernagelten Fenstern aufgestapelt seien.
Vor dem Krieg, "als es noch normale Arbeit gab, hatten wir zehn Chirurgen, jetzt sind es fünf", zitiert AP den Arzt Ivan Mozhaiev. In seiner Abteilung sei der 32-Jährige der einzige Chirurg, der von den fünf übrig geblieben sei.
"Jetzt müssen wir Menschen mit Schusswunden behandeln"
Ähnliches berichtet Mozhaievs Berufskollege Viktor Krikliy, Leiter der Chirurgie in einem Krankenhaus in Kramatorsk in der Region Donezk: Viele Mitarbeiter der Klinik hätten die Stadt verlassen und mehrere Abteilung schließen müssen, während die Menschen aus Kramatorsk und den umliegenden Orten weiterhin versorgt werden müssten, erzählt er der Nachrichtenagentur. In seinem Bereich gebe es zwei chirurgische Abteilungen, in denen früher jeweils 15 Chirurgen tätig gewesen seien. Jetzt seien es nur noch sechs Chirurgen für beide Abteilungen. Dasselbe gelte für die Krankenschwestern und -pfleger, deren Personalstand nur noch etwa halb so groß sei wie vor dem Krieg.
Aber nicht nur die Menge, auch die Art der Arbeit sowie die Patientinnen und Patienten haben sich mit dem Krieg radikal verändert. "Früher haben wir Menschen mit Krankheiten behandelt, manchmal gab es auch Traumata. Jetzt müssen wir Menschen mit Schusswunden behandeln", berichtet Krikliy.
Zwar hatte das Krankenhaus von Kramatorsk nach Angaben von AP schon früher mit Kriegsverletzungen zu tun. Die Stadt liegt im Donbas, wo die von Russland unterstützten Separatisten 2014 mit dem Kampf gegen die ukrainischen Streitkräfte begannen, und auch damals habe Krikliy Verwundete operieren müssen. "Aber das Ausmaß jetzt und damals ist unvergleichlich", sagt der Arzt. Und es sei das erste Mal, dass das medizinische Personal in Kramatorsk statt Soldaten viele verwundete Zivilisten behandle.

"Wir hätten uns nicht einmal im schrecklichsten Alptraum träumen lassen, dass Zivilisten in der Ukraine solche Verletzungen erleiden würden", erzählt Krikliy. Er habe kleine Kinder operieren müssen, deren Gliedmaßen durch Explosionen weggesprengt worden seien.
Doch trotz der Gefahr und der physischen und emotionalen Belastung will der Arzt bleiben. Wir sind Chirurgen. Unsere Aufgabe ist es, die Menschen zu operieren und sie zu behandeln. Wenn alle gehen, wer soll dann die Arbeit machen", sagt Krikliy. "Wir sind kein Selbstmordkommando und suchen auch keinen Weg, um irgendwo zu sterben. Aber ... wir machen unsere Arbeit. Und das werden wir auch weiterhin tun."
Quellen: UN-Hochkommissariatfür Menschenrechte, Associated Press, Human Rights Watch, Auswärtiges Amt