In Ungarn hat der Druck der Demonstranten auf den ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany (45) nach dem "Lügenskandal" am Samstagabend einen neuen Höhepunkt erreicht. Nach unterschiedlichen Schätzungen der Medien versammelten sich zur bisher größten Demonstration seit einer Woche 25.000 bis 50.000 Anhänger der rechten Opposition in Budapest. Sie verlangten erneut den Rücktritt des sozialistischen Regierungschefs. Für Sonntagabend wird ein ähnlich großer Protest erwartet, nachdem schon am Morgen wieder mehrere hundert Demonstranten vor das Parlament gezogen waren.
Die Protestwelle hatte begonnen, nachdem publik geworden war, dass Gyurcsany parteiintern eingeräumt hatte, das Volk belogen zu haben, um die Parlamentswahl im April 2006 zu gewinnen.
Trotz des wachsenden Drucks will Gyurcsany im kommenden Frühjahr für den Vorsitz seiner Sozialistischen Partei (MSZP) kandidieren. Unabhängig vom Ausgang der Kommunalwahl in einer Woche halte er an der Kandidatur fest, betonte Gyurcsany in der am Sonntag erscheinenden Zeitung "Vasarnapi Reggel". Vorsitzender der Partei ist derzeit der Kultur- und Bildungsminister Istvan Hiller.
"Volksabstimmung gegen die Regierung"
Bereits vor dem "Lügenskandal" galten die Chancen der Sozialisten bei der Kommunalwahl als gering. Hohe Politiker der größten rechten Oppositionspartei FIDESZ (Junge Demokraten) betonten mehrfach, die Kommunalwahl sei nunmehr eine "Volksabstimmung" gegen die Regierung.
Anders als andere FIDESZ-Politiker nahm der Vorsitzende der Partei, Viktor Orban (43), nicht an der Demonstration teil. Er wolle den Eindruck vermeiden, FIDESZ habe die Proteste organisiert, sagte er. Jedoch plädierte Orban für eine Übergangsregierung aus "Experten" mit einem zeitlich und inhaltlich "eingeschränkten Mandat", die "Maßnahmen zur Lösung der Krise" treffen solle. Nach Ablauf des Mandats müsse man "eine andere politische Lösung finden".
Gyurcsany verteidigte erneut seine "Skandal-Rede". Er brauche sich dafür nicht zu entschuldigen: Diese Äußerungen seien bereits "das Eingeständnis und die Konfrontation" mit bisherigen Versäumnissen und Lügen gewesen. "Als ich meinen Parteifreunden sagte: 'Versteht Ihr nicht, dass wir gelogen haben?', so meinte ich damit, dass wir nicht mutig genug waren, die ganze Wahrheit zu sagen", sagte Gyurcsany weiter. "In diesem Text war mit 'Lüge' nicht gemeint, dass wir (Wirtschafts-)Zahlen verschwiegen hätten. (...) Wir haben keine falschen Daten bekannt gegeben."
Unterstützung durch Schrifsteller
Die beiden ungarischen Schriftsteller und Friedenspreisträger Péter Esterhàzy und György Konràd haben die Lügenskandal-Rede des sozialistischen ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany verteidigt. Der Premier hatte parteiintern in einer von Kraftausdrücken gespickten Rede eingeräumt, das Volk belogen zu haben, um Wahlen zu gewinnen. Konràd nannte die Rede in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" einen "Offenbarungseid".
"Die Opposition wirft ihm Täuschung vor - doch der Witz besteht ja darin, dass da ein Lügner sagt, er will kein Lügner mehr sein", sagte Konràd. "Er möchte Schluss machen mit den Lügen, deren sich die politische Klasse überall auf der Welt bedient. Wann kommt das je vor, dass Politiker Fehler zugeben? Dazu gehört Mut." Mit seiner drastischen Sprache habe Gyurcsany die Leute "aufrütteln, ihnen die ungeschminkte Wahrheit präsentieren" wollen. "Da sprach ein verzweifelter Mann, und er sprach voller Leidenschaft."
"Wir sprechen alle wie die Kutscher"
Esterhàzy ("Harmonia Caelestis") sagte in einem Interview der ungarischen Tageszeitung "Nepszabadsag": "In diesen Tagen ist die Lüge das Hauptwort. Einverstanden. Aber es wäre eine Lüge zu sagen, dass dies allein Gyurcsany betrifft. Wenn wir den Text (der Skandal-Rede) ein wenig ruhig lesen, so ist das auch ein Text mit einem sehr moralischen Fundament. Er sagt ja gerade, nun sei genug gelogen worden (...). Die Privilegien mögen ein Ende haben. Und zwar nicht jene der (rechten Oppositionspartei) Fidesz, sondern Eure, verdammt noch mal, seht es doch ein, von Euch ist die Rede. Das ist es, was Gyurcsany seinen Genossen ungefähr gesagt hat."
Zur vielfach kritisierten Vulgärsprache Gyurcsanys sagte Esterhàzy: "Seit langem stimmt es nicht mehr, dass nur die Kutscher so sprechen wie die Kutscher, wir alle sprechen so (...)".
Es lohne sich nicht, "die Politiker zur Lüge zu treiben. Wir belügen uns selbst, wenn wir sagen, wir wüssten nicht, dass sie (die Politiker) lügen. Oh doch, wir wissen es, ein wenig erwarten wir es auch. Wir wollen etwas Besseres hören, als das, was ist", führte Esterhàzy weiter aus. "Der König hat selbst gesagt, er sei nackt. Trotzdem können wir darüber nicht so lachen wie über das Märchen."