Fast sieht es so aus, als würde Hugo Chavez einem Strauchelnden noch in den Rücken treten: Am 26. März hat die Farc ihren Gründer und Übervater Manuel Marulanda durch einen Herzinfarkt verloren. Am 1. Mai starb dessen Stellvertreter und Schwiegersohn Raul Reyes unter dem Bombenhagel der kolumbianischen Luftwaffe auf sein Rückzugslager in Ecuador. Wenige Tage später wurde ein weiterer hoher Guerilla-Führer von seinem eigenen Leibwächter gemeuchelt. Und jetzt wendet sich mit dem Präsidenten Venezuelas auch noch der letzte politische Verbündete von den Rebellen ab. "Der Guerilla-Krieg ist Geschichte", rief Chavez seinen einstigen Freunden übers Fernsehen zu. "Guerilla-Verbände passen nicht mehr in das Lateinamerika von heute." Die Farc solle nach über vierzig Jahre dem bewaffneten Kampf ein Ende setzen und ihre rund 800 im Dschungel festgehaltenen Geiseln bedingungslos freilassen.
Vor ein paar Wochen noch hat der Haudrauf aus Caracas ganz anders getönt: Bei der Farc handle es sich nicht etwa um eine Terror-Truppe, wie die Regierungen der USA und der Europäischen Union meinen. Nein, sagte Chavez, die Aufständischen hätten "ein politisches Projekt, das man in Venezuela respektiert". Die Gruppierung müsse trotz ihrer Verwicklung in Drogenhandel und Entführungsindustrie von den Terroristen-Listen gestrichen und als kriegführende Partei international anerkannt werden. Und jetzt dieser Sinneswandel! Ist der bolivarische Revolutionsführer plötzlich zum Friedensengel geworden?
Projekt 'Spitzelstaat' eingestampft
Es ist nicht die einzige Kehrtwende des Hugo Chavez in diesen Tagen. Mitte der Woche nahm er ein Gesetz über die Neuordnung der Geheimdienste zurück, das er erst wenige Tage zuvor per Dekret verkündet hatte. Wäre es in Kraft getreten, hätte es aus Venezuela einen Spitzelstaat gemacht. Chavez hatte sich von kubanischen Verhältnissen inspirieren lassen und wollte, dass die von ihm geschaffenen bolivarischen Zirkel die Bevölkerung ausspionieren. Genauso wie im Land seiner engsten Freunde, der Gebrüder Castro, wo Stadtteilkomitees mit wachem Auge die Revolution verteidigen. Jetzt wurde das Großmaul plötzlich kleinlaut und gestand ein, dass das Geheimdienstgesetz wohl verfassungswidrig sei.
Sogar eine vorderhand populäre Maßnahme ließ Chavez wieder kassieren: Zu Zeiten, da in anderen Ländern das Busfahren wegen der explodierenden Ölpreise immer teurer wird, hat er billigere Fahrscheine angeordnet. Die Bevölkerung mag sich darüber gefreut haben. Doch die Transporunternehmer waren sauer und drohten mit Ärger - und der sonst so starke Mann im Regierungspalast von Miraflores knickte ein. Was hat ihn nur so handzahm gemacht?
Teile und herrsche
Vielleicht hat sich Chavez trotz seiner radikalen Richtungswechsel im Grunde gar nicht geändert. Er ist ein begnadeter Populist. Einer, der dem Volk aufs Maul schaut und an nichts so sehr interessiert ist wie am Erhalt der eigenen Macht. Die Basis dieser Macht war bislang jene Bevölkerungsmehrheit, die in den Armenvierteln der Städte und in den tristen Dörfern im Hinterland wohnt. Menschen, die Jahrzehnte lang vom aus den Ölquellen des Landes sprudelnden Reichtum ausgeschlossen waren. Chavez ist der erste Präsident Venezuelas, der mit ihnen teilt. Er gab ihnen Bildungsangebote und Gesundheitsversorgung gratis und billige Lebensmittel in staatlichen Supermärkten. Dafür liebten sie ihn und wählten ihn wieder und wieder. Und sie genehmigten in Volksabstimmungen Verfassungsänderungen, die es ihm ermöglichen, sich auch in Zukunft wieder und wieder wählen zu lassen.
Visionen stopfen keine Mäuler
Der Präsident glaubte schon, das Volk liebe ihn auch wegen seiner Visionen. Wie einst der Unabhängigkeitsheld Simón Bolívar träumt Chavez von einem geeinten Lateinamerika - und dazu noch von einem wie auch immer gearteten "Sozialismus des 21. Jahrhunderts". Doch das Volk interessieren solche Visionen nicht. Es geht in Venzuela ums Fressen und nicht um Moral oder Ideologie. Als aus den Supermärkten die Lebensmittel verschwanden, weil Chavez vor lauter außenpolitischem Gepolter die Pflege der Wirtschaft zu Hause vernachlässigt hatte, da schwand auch die Liebe des Volkes dahin. Vor einem Jahr noch standen 75 Prozent der Bevölkerung hinter ihrem Präsidenten, nach neuesten Umfragen sind es nur noch 55 Prozent. 70 Prozent finden die von Chavez lange gehätschelte Farc widerlich - und sind entsprechend erbost darüber, dass in der vergangenen Woche ein Kurier der Armee Venezuelas in Kolumbien mit 40.000 Patronen für die Aufständischen geschnappt wurde.
Alles für den Machterhalt
Nach bald zehn Jahren im Präsidentenamt kann sich Chavez seiner Macht nicht mehr so sicher sein wie in der Zeit der ersten Liebe. Im Dezember vergangenen Jahres hat er zum ersten Mal eine Abstimmung verloren: Ein Referendum über eine Verfassungsreform, mit der in Venezuela der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" eingeführt werden sollte. In einem halben Jahr stehen Regionalwahlen an. Nach derzeitigen Umfragen kann die Opposition dabei mindestens zehn der 22 Gouverneursposten des Landes gewinnen. Spätestens dann könnte Chavez nicht mehr so selbstherrlich regieren. Also gibt sich das einstige Großmaul lieber ein bisschen kleinlaut und schmeichelt sich ein. Er nimmt ein paar umstrittene Gesetze und Anordnungen zurück und redet, was die Farc angeht, seinem Volk nach dem Maul. Geradlinigkeit war noch nie die Stärke von Populisten. Die Regierung Kolumbiens wird sich über diesen unverhofften politischen Schlag in die Magengrube der Aufständischen freuen. Aber die von Chavez gehätschelten linken Regierungen in Kuba und Nicaragua, Bolivien und Ecuador müssen angesichts dieses brüsken Richtungswechsels erschaudern.