Die jungen Leute lagen sich in den Armen, als hätte die Türkei gerade die Fußball-Europameisterschaft gewonnen. Als Helfer der AK-Partei in der türkische Metropole Istanbul am frühen Mittwochabend vom Urteil des Ankaraner Verfassungsgerichts erfuhren, stießen sie wilde Freudenschreie aus und tanzten im Kreis. Denn das Gericht verzichtete darauf, die größte Partei des Landes zu verbieten und beließ es bei einer eher symbolischen Geldstrafe und einer Verwarnung. Grund zu Freudentänzen sehen die meisten führenden AKP-Politiker allerdings nicht. Denn das Gerichtsurteil ist ein bitterer Sieg für Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Anhänger.
Auch Erdogan selbst wirkte nicht ausgelassen, sondern angespannt, als er sich wenige Stunden nach der Urteilsverkündung in der Parteizentrale der AKP einfand. Die Entscheidung habe die Türkei "vor einer großen Schande bewahrt", sagte er. Die AKP sei niemals gegen den Laizismus gewesen und werde auch in Zukunft für die Grundwerte der Republik eintreten. In den vergangenen Monaten habe die Türkei wegen des Verbotsprozesses viel Zeit verloren und werde sich jetzt wieder ihren Herausforderungen wie dem EU-Beitrittsprozess widmen. Eine stolze Siegesrede war das nicht.
Überzeugt von der eigenen Unangreifbarkeit
Noch im letzten Jahr hatte die Welt für Erdogan ganz anders ausgesehen. Fast die Hälfte der Wählerstimmen hatte die AKP bei den Parlamentswahlen im Juli 2007 eingefahren. In den anschließenden Monaten war Erdogan offenbar so von seiner eigenen Unangreifbarkeit überzeugt, dass er sich einigen umstrittenen Themen zuwandte, die er in den Jahren zuvor tunlichst gemieden hatte. Dazu gehörte der gegen erheblichen Widerstand in der Öffentlichkeit durchgesetzte Plan, türkischen Studentinnen das Tragen des islamischen Kopftuches auf dem Uni-Gelände zu erlauben. Erdogans Gegner, die eine Islamisierung des Landes befürchteten, zogen daraufhin zum Verfassungsgericht.
Das Gericht habe unter starkem Druck gestanden, räumte Verfassungsgerichtspräsident Hasim Kilic bei Verkündung der Entscheidung ein. Sechs von elf Verfassungsrichtern waren für ein Verbot der Regierungspartei. Eine einzige weitere Stimme wäre notwendig gewesen, um die AKP aufzulösen. So blieb es bei der Entscheidung, der AKP Mittel aus der staatlichen Parteienfinanzierung zu kürzen und die Partei zu verwarnen.
Wichtige Warnung
Diese Warnung ist das eigentlich Wichtige an der Entscheidung. Während die fehlenden Gelder der finanzstarken AKP kaum fehlen dürften, musste sie sich öffentlich vom Verfassungsgericht abwatschen und als Islamisten-Verein hinstellen lassen. Zehn von elf Richtern stuften die Partei mit ihren Voten als islamistisch ein, wenn die vorgebrachten Beweise auch nicht für ein Verbot ausreichten. Das ist ein herber Rückschlag für eine Partei, die sich selbst als durch und durch demokratisch sieht und sogar Mitglied in der EVP werden will, dem Verband der konservativen Parteien Europas.
"Weg des Laizismus nicht verlassen"
Kein Wunder, dass sich die türkischen Kemalisten, die sich selbst als Hüter des Erbes von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk sehen und Erdogan und die AKP schon immer als Islamisten betrachten, auf den Islamismus-Vorwurf des Gerichts stürzten. Der AKP müsse spätestens jetzt klar sein, dass sie den Weg des Laizismus nicht verlassen dürfte, erklärte die Kemalistenpartei CHP. Die Armee bleibe weiter den Werten Atatürks verbunden, sagte Generalstabschef Yasar Büyükanit mit drohendem Unterton.
Insgesamt überwog aber selbst bei Erdogans Gegnern die Erleichterung darüber, dass der Türkei eine noch tiefere politische Krise erspart bleibt. Ein Verbot der Regierungspartei hätte wahrscheinlich neue Spannungen und vorgezogene Neuwahlen ausgelöst. Jetzt kann Erdogan weiter regieren - gleichzeitig hat ihm das Gericht aber auch aufgetragen, sich stärker als bisher um einen gesellschaftlichen Konsens zu bemühen, wenn es um heftig umstrittene Fragen wie das Kopftuchproblem geht.
Ob sich Erdogan in den kommenden Monaten weniger auf Konfrontation und mehr auf Konsens setzen wird, ist nicht sicher. Schließlich ist der Premier ein leidenschaftlicher Parteipolitiker, dem nichts lieber ist als eine richtig schöne Schlacht mit seinen Gegnern.
Die wichtigen "kleinen Leute"
Doch dem Ministerpräsidenten dürfte es zu denken geben, dass viele Türken ihm selbst und seiner Partei die Schuld an den Spannungen der letzten Monate geben. Gerade "kleine Leute" in der Türkei - Krämer, Arbeiter und kleine Beamten - ärgern sich über das ständige Gezerre in Ankara. Und diese Menschen bilden das Rückgrat von Erdogans Wählerschaft.
Den meisten Bürgern im Land geht es nur in zweiter Linie um Kopftücher und Laizismus - die allermeisten wollen Arbeit und Wohlstand. Und sie wollen nicht, dass das in den Jahren des Wirtschaftsaufschwungs seit 2001 aufgebaute bescheidene Glück - eine Wohnung, ein Auto - plötzlich wegen politischer Spannungen in Gefahr gerät. Deshalb war es wohl kein Zufall, dass Erdogan am Mittwochabend in seiner Reaktion auf das Verfassungsgerichtsurteil den Wert der wirtschaftlichen Stabilität betonte.
Brüssel ist erleichtert
Auch die EU ist erleichtert. "Positiv" sehe die Gerichtsentscheidung aus, ließ der EU-Außenpolitikbeauftragte Javier Solana erklären. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zeigte sich ebenfalls erfreut. Brüssel wertete den Prozess gegen die AKP als politisch motivierte Vendetta, mit dem die Kemalisten eine ungeliebte Regierungspartei loswerden wollten. Mehrere EU-Politiker hatten in den vergangenen Monaten vor schwerwiegende Folgen für den türkischen Beitrittsprozess gewarnt, falls die Justiz die Erdogan-Partei verbieten sollte. Jetzt kann sich Brüssel wieder auf eine etwas berechenbarere Türkei einstellen - und auf einen türkischen Ministerpräsidenten, der vielleicht nicht mehr ganz so selbstsicher auftreten wird wie bisher.