Wahlkrimi Ohio ist das neue Florida

Vor vier Jahren war es Florida, nun ist es Ohio. Präsident Bush führt in dem Bundesstaat vor Kerry, der seine Niederlage bereits eingeräumt hat. Doch weit über 100.000 Stimmen müssen noch ausgezählt werden.

Die Entscheidung, wer der nächste Präsident der Vereinigten Staaten wird, fällt im Nordosten der USA, in Ohio. Es geht um 20 Stimmen im Wahlkollegium und damit um den entscheidenden Vorsprung bei dessen Votum im Dezember. Doch bis das endgültige Ergebnis feststeht, könnten noch Tage, wenn nicht Wochen vergehen. Am Mittwoch lag Präsident George W. Bush mit rund 135.000 Stimmen in Führung vor seinem Herausforderer John Kerry. Das Zünglein an der Waage sind aber möglicherweise die so genannten provisorischen Stimmen, deren Gültigkeit gesondert überprüft werden muss. Ihre Zahl wurde auf rund 140.000 geschätzt - mehr als Bushs Vorsprung. Bisherige Erfahrungen mit provisorischen Stimmen haben allerdings gezeigt, dass nur ein relativ geringer Anteil tatsächlich gültig ist.

"Es geht hier um zwei Fragen"

Genau daran dürften sich nun juristische Kämpfe entzünden. Denn je mehr provisorische Stimmen letztlich gelten, desto größer sind auch die Chancen Kerrys. "Wir denken, dass ein guter Teil davon unsere Wähler sind", sagte dessen Sprecherin Jennifer Palmieri. Beobachter gingen davon aus, dass Kerrys Juristen sich bemühen werden, eine möglichst liberale Prüfung der Stimmen durchzusetzen - während die Anwälte der Gegenseite auf eine strenge Prüfung und enge Fristen dringen dürften. Beide Seiten brachten am Mittwoch Legionen von Anwälten in Stellung. "Es geht hier um zwei Fragen", erklärte Rechtsprofessor Spencer Overton von der George-Washington-Universität. Die erste Frage laute, wie ein einheitlicher Standard zur Überprüfung der provisorischen Stimmen entwickelt werden könne, die zweite, wie großzügig diese Standards gehandhabt werden sollten.

Die provisorischen Stimmen wurden wegen des Auszählungsdebakels in Florida nach der Präsidentenwahl vor vier Jahren eingeführt: Sie geben all jenen Wählern eine Chance zur Stimmabgabe, deren Wahlrecht in irgendeiner Form in Frage steht. In Ohio wird mit der Auszählung dieser provisorischen Stimmen erst zehn Tage nach der Wahl begonnen. In der Zwischenzeit wird von Wahlhelfern geprüft, welche Stimme wirklich zählen darf. Bushs Wahlkampfteam widersprach der Ansicht, dass den provisorischen Stimmen in Ohio die entscheidende Bedeutung für den Ausgang der Präsidentenwahl zukommen könnte. Sogar wenn es weit mehr gültige Stimmen als erwartet geben sollte, könne Kerry seinen Rückstand nicht mehr aufholen, sagte Sprecherin Nicolle Devenish. "Das ist hoffnungslos."

Die Demokraten sehen das anders und haben ihre Anwälte in Ohio in Stellung gebracht - in dem Industriestaat an der Grenze zu Kanada, der schon mehrfach eine zentrale Rolle bei Präsidentenwahlen spielte. Nur zwei Präsidenten zogen seit 1900 ohne die Wahlmännerstimmen aus Ohio ins Weiße Haus ein.

Mit 537 Stimmen Vorsprung ins Weiße Haus

Gebannt schaute die Welt vor vier Jahren nach der Präsidentenwahl auf Florida, wo die Entscheidung über den neuen Präsidenten der USA fallen sollte. Am Ende eines 36-tägigen Marathons war es schließlich das Oberste Gericht, das George W. Bush auf Grund eines Vorsprungs von 537 Stimmen ins Weiße Haus brachte.

Je nach Auszählungsstand wechseln sich Bush und sein Kontrahent Al Gore damals in der Führung ab. Dann revidieren TV-Sender zu Florida Hochrechnungen und erklären das Rennen dort wieder für offen. Es folgen Hochrechnungen, nach denen Bush Wahlsieger und damit künftiger Präsident ist. Gore gratuliert Bush, zieht die Gratulation aber bald wieder zurück, weil seine Berater das Ergebnis in Florida anzweifeln. Der Stimmenunterschied erweist sich als so gering, dass in Florida nachgezählt werden muss.

Der damalige Bundespräsident Johannes Rau und andere Staatschefs legen ihre bereits veröffentlichten Glückwünsche für Bush auf Eis. Es folgen Wochen, in den vor allem Juristen das Wort haben. Es geht um die Fragen, wo, wie, bis wann und wie viele Stimmen überprüft werden müssen. Bilder von erschöpften Wahlhelfern, die Stanzkarten ins Lampenlicht halten, gehen um die Welt.

Furioses Finale

Am 26. November wird Bush mit einem Vorsprung von 537 Stimmen zum Sieger in Florida erklärt und kündigt unverzügliche Vorbereitungen auf die Amtsübernahme an. Noch einmal zu früh gefreut: Gore ficht das Ergebnis gerichtlich an, und es beginnt ein furioses Finale. Nach dutzenden gerichtlichen Klagen setzen die höchsten Richter der Nation der Hängepartie ein Ende, indem sie von Gore geforderte Handauszählungen strittiger Wahlzettel stoppen. Nun bleibt dem Demokraten nur noch eines. "Die Schlacht endet heute Nacht", sagt Gore in seiner Fernsehansprache am Abend des 13. Dezember. "Heute, zum Wohle unserer Einheit als Volk,...räume ich meine Niederlage ein." Bush wird am 20. Januar 2001 als 43. Präsident der USA und Nachfolger von Bill Clinton vereidigt.

AP
Anne Gearan/AP