Aussiedlerbeauftragte "Wo bist du denn Deutsche?" – Natalie Pawlik über Diskriminierung und Desinformation

Natalie Pawlik
"Wir sind deutsch, und wir dürfen hier sein": Pawlik, geboren 1992 in Wostok und seit 1998 in Deutschland, gewann bei der Bundestagswahl 2021 für die SPD ein Direktmandat im Wahlkreis Wetterau I, Hessen
© Marlena Waldthausen
Solche Fragen musste Natalie Pawlik sich anhören, als sie als Kind aus Sibirien nach Deutschland kam. Heute ist sie Aussiedlerbeauftragte und will erreichen, dass Russlanddeutsche besser behandelt werden.

Frau Pawlik, Sie sind von der Bundesregierung beauftragt, Aussiedler und nationale Minderheiten zu vertreten. Wieso hat es mehr als 30 Jahre gedauert, bis die erste Russlanddeutsche in das Amt der Aussiedlerbeauftragten kam?
Die Vielfalt unserer Gesellschaft wird in den Parlamenten und den politischen Führungspositionen insgesamt kaum abgebildet. Es sind viel zu wenige Leute mit einer ähnlichen Biografie wie meiner in der Politik vertreten, erst recht mit Blick auf die Größe der Gruppe. Seit 1950 hat Deutschland mehr als 4,5 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler aufgenommen. Das ist die größte Zuwanderungsgruppe bei uns, und ich möchte mitwirken, ihre politische Teilhabe zu stärken.

Warum ist es überhaupt nötig, Aussiedler zu unterstützen?
Aussiedler kommen voller Hoffnung nach Deutschland, sie wollen endlich anerkannt werden und Chancen haben in einer Gesellschaft. Stattdessen werden ihnen Steine in den Weg gelegt. Wenn eine russlanddeutsche Ärztin zu uns kommt, ihr Abschluss nicht anerkannt wird und sie als Reinigungskraft arbeiten muss trotz ihrer Qualifikation, macht das was mit einem Menschen. Genauso wenn Behörden, Institutionen und Arbeitgeber sie minderwertig behandeln. Wegen der Verfolgung und Deportation infolge des Zweiten Weltkriegs ist es Deutschlands Verantwortung, sich um die Menschen zu kümmern.

Sie sind 1992 in Wostok geboren, einer kleinen Stadt in Sibirien. Was für Erinnerungen haben Sie an die Zeit?
Die Toiletten waren Plumpsklos, die Straßen Schotterwege. Wir sind ärmlich aufgewachsen. Als die Sowjetunion zerfallen ist, war das schrecklich für meine Familie. Das Geld war nichts mehr wert, die Berufe ebenso, Lebensmittel waren knapp. Wir konnten uns helfen, denn meine Familie hatte Garten und Vieh: Hunde, Katzen, Schweine, Hühner und zwei Kühe. Wir hatten Felder für Rüben und Kartoffeln und einen Gemüsegarten mit Gurken, Zwiebeln und Kohl. Trotz allem habe ich eine schöne Erinnerung an meine Kindheit.

Ihre Vorfahren wurden unter Stalin von der Wolga nach Sibirien deportiert.
Mein Großvater war vier Jahre alt, als sein Vater ins Arbeitslager kam. Er hat ihn nicht wiedergesehen. Seine Schwester starb während der Deportation. Das war sehr traumatisierend. Hinzu kam die Ungerechtigkeit, die er und seine Familie erfahren haben. In der Sowjetunion wurde er deportiert, weil er Deutscher war – und in Deutschland wurde er als Russe wahrgenommen. Die Diskriminierung vor und nach Stalin hat die Familie sehr geprägt.

Erschienen in stern 02/2024

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