Guide Michelin 2022 Sternekoch Alexander Wulf: "Seit 30 Jahren arbeite ich daran, den Stempel 'Scheiß-Russe' loszuwerden"

Sternekoch Alexander Wulf hat russische Wurzeln und muss seit der Ukraine-Invasion mit Anfeindungen leben.
Sternekoch Alexander Wulf hat russische Wurzeln und muss seit der Ukraine-Invasion mit Anfeindungen leben.
Wie kein anderer repräsentiert Alexander Wulf die russische Küche in Deutschland. Seine Arbeit wurde heute mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. Seit der Ukraine-Invasion aber ist er täglich Anfeindungen ausgesetzt. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, was das persönlich mit ihm macht und wie er damit umgeht.

Eigentlich ist heute ein guter Tag: Küchenchef Alexander Wulf und sein Team werden für ihr Restaurant Troyka mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. Der Ritterschlag für jeden Koch und der Lohn für viele Jahre harte Arbeit.

Heute herrscht aber auch Krieg. Es ist 14 Tage her, dass Putin eine Invasion in die Ukraine befohlen hat. Ein Krieg, mit dem die Welt nicht einverstanden ist.

Seit 14 Tagen häufen sich bei Alexander Wulf die Stornierungen. "Angeblich haben die Gäste Corona", sagt der Sternekoch im Gespräch mit dem stern. Alexander Wulf ist Russland-Deutscher. In Sibirien geboren, in Kasachstan aufgewachsen, emigrierte er mit neun Jahren nach Deutschland. "Deutschland ist meine Heimat, in Russland sind meine Wurzeln", sagt er. Eigentlich ist er stolz auf seine Herkunft und auf seine Küche, er serviert russische Haute Cuisine. Mit Gerichten, die man nicht nur in Russland findet, sondern auch in Kasachstan, in Georgien und in der Ukraine. 

Heute steht alles Kopf.

Es ist eines der emotionalsten Gespräche, das ich je geführt habe. Mehrfach müssen wir kleine Pausen machen, weil der Sternekoch von seinen Emotionen übermannt wird. Trotz der schwierigen Situation möchte Alexander Wulf seine Stimme nutzen: um sich gegen den Krieg auszusprechen, um sich mit den Menschen aus der Ukraine zu solidarisieren und um Anfeindungen Paroli zu bieten.

Herzlichen Glückwunsch zum Michelin-Stern, Herr Wulf! Wie fühlen Sie sich?

Diesen Stern widme ich meinen ukrainischen und russischen Kollegen. Vor zwei Wochen hätte mir der Michelin-Stern persönlich noch alles bedeutet. Heute ist er nur Nebensache. Ich versuche mich natürlich trotzdem darüber zu freuen, weil mein Team viel zu hart dafür gearbeitet hat. Aber gerade zerreißt es mir einfach nur das Herz.

Ihr Restaurant Troyka in Erkelenz-Immerath ist erst seit drei Monaten geöffnet, trotz Corona wurden Sie als Aufsteiger des Jahres ausgezeichnet und haben den Michelin-Stern erhalten. Jetzt ist Krieg in der Ukraine. Wie schafft man es, nicht den Verstand zu verlieren, wenn gefühlt so viele Steine im Weg liegen?

Wenn es so weitergeht, weiß ich nicht wie ich das seelisch aushalten soll. Ich verurteile diesen Krieg. Ich spreche stundenlang sowohl mit ukrainischen als auch russischen Köchen und biete mich als Gesprächspartner an. Ich habe einen deutschen Pass, ich habe Putin nicht gewählt. Das versuche ich nach außen zu kommunizieren. Oft bin ich von meinen Gefühlen erschlagen, aber ich versuche, stark zu sein. Das ist sehr schwer.

Sie sind der einzige Sternekoch mit russischen Wurzeln und servieren russische Haute Cuisine. Erleben Sie seit der Ukraine-Invasion Anfeindungen?

Sehr viele.

In welcher Form?

Ich erhalte schreckliche E-Mails. Dass das "Blut von ukrainischen Kindern an meinen Händen" klebe, dass ich "ein Kriegstreiber" wäre. Meine Tochter wurde aus der Klasse geholt und gefragt, wie wir zu Putin stehen. In meinem Sohn brodelt es, er zeigt keine Tränen, aber ich merke seine Anspannung. Plötzlich wird über das Land, in dem sein Vater geboren wurde, schlecht geredet. Ich war auf einer Friedenskundgebung in meinem Ort Erkelenz, ich spürte die Blicke. Als Russland-Deutscher bietet man heute Angriffsfläche. Ich lebe hier seit 30 Jahren. Seit 30 Jahren arbeite ich daran, den Stempel "Scheiß-Russe" loszuwerden: mit meiner Küche, mit meinem Handeln, mit meiner Menschlichkeit und mit meiner Liebe zu Menschen. Ich habe Freunde aus aller Welt. Viele davon sind Ukrainer. Und trotzdem werde ich verurteilt.

Haben Sie das auch an der Buchungslage bemerkt?

Ja, es wurden viele Buchungen storniert. Angeblich haben die Gäste Corona. Aber prozentual sind es definitiv mehr Stornierungen, seit der Krieg ausgebrochen ist.

Sie haben sich über Social Media klar gegen den Krieg positioniert und für die Ukraine solidarisiert. Wie gehen Sie mit den Anfeindungen um, ignorieren Sie sie oder gehen Sie darauf ein?

Seelisch macht mich das kaputt. Das ist nicht gut. Und trotzdem muss ich da jetzt durch. Ich schreibe fast täglich mit ukrainischen Köchen in der Ukraine. Das ist hart und tut nicht gut, aber ich möchte, dass sie wissen, dass wir alle nur Menschen sind. Dass wir keinen Krieg wollen. Wir versuchen, die Menschen zu überzeugen, dass das nicht unser Krieg ist. Wir haben im März mehrere Veranstaltungen und kochen für den Frieden. Jeder Cent wird an ukrainische Geflüchtete gespendet. Wir fahren an die polnische Grenze und kochen für Geflüchtete. Wir haben uns angemeldet, zwei ukrainische Familien aufzunehmen. Es ist uns egal, dass wir keinen Platz haben. Wir wollen ein Zeichen setzen. Und trotzdem ...

Haben Sie persönliche Verbindungen nach Russland?

Natürlich. Erst letztes Jahr waren wir in St. Petersburg, dort habe ich Hunderte Köche, Hunderte Menschen kennengelernt. Es war eine wunderschöne Zeit. Danach sind wir weiter ins Land gereist, in die Heimat meiner Frau. Die auch gegen den Krieg ist, die Putin nicht gewählt hat. Wir haben viele Freunde in Russland.

Viele Russland-Deutsche oder Menschen mit russischen Wurzeln fühlen sich dazu gedrängt, Position zu beziehen. Machen sie es nicht, werden sie hier gewissermaßen "sanktioniert", tun sie es aber doch, verlieren sie womöglich in Russland alles.

Hätten Sie Familie in Russland, würden Sie das tun? Wenn man hier in einem freien Land lebt und seine Meinung äußern darf, ist es das eine. Aber was ist mit meiner Familie in Russland? Ich spüre diesen Widerstand auch und überlege natürlich, was ich sagen kann. Aber ich stehe auch in der Öffentlichkeit und werde ich gefragt, sage ich meine Meinung. Wenn ich es nicht tue, wer dann? Es tut weh, es ist einfach ein unaussprechlicher Schmerz.

Wie gehen Ihre Verwandten in Russland mit dem Wahnsinn um?

Die verstehen gar nicht, wovon wir hier reden. Sie sehen im Fernsehen nur, dass es sich um einen Befreiungsschlag gegen den Faschismus handelt. Sie sehen nicht, dass Häuser zerbombt werden und Menschen dabei sterben. Es ist schwer, an sie heranzukommen. Das macht mich kirre.

Wie schauen Sie heute auf Ihr Heimatland?

Ich habe einen offenen Brief von Friedrich Merz gelesen, der genau meine Gedanken beschreibt. Wenn ich an Russland denke, denke ich an Puschkin, an die Landschaft, an die Küche und vermutlich an die gastfreundlichsten Menschen dieser Erde.

War Ihnen bewusst, dass sich Politik so sehr auf die Kulinarik auswirken könnte?

Absolut nicht. Die Küche ist eigentlich dafür da, um die schönen Seiten des Lebens zu zeigen. Aber dass ich mich mal nicht mehr darüber freuen kann, die russische Küche zu repräsentieren, das habe ich niemals für möglich gehalten.

Sie haben Ihre Herkunft immer sehr betont und natürlich auch genutzt, um Ihre "Marke" aufzubauen. 

Das ist keine Marke, das ist mein Empfinden. Wir hatten damit sehr viel Erfolg und eigentlich immer noch. Ich bin in Russland geboren, ich kann dafür ja nichts. Ich liebe dieses Land und die Menschen, aber ich hasse diesen Krieg. Der Krieg macht alles kaputt. 

Sie haben 30 Jahre auf den Erfolg hingearbeitet. Bereuen Sie es heute, dass Sie sich für die russische Haute Cuisine entschieden haben?

Nein, obwohl wir darüber diskutiert haben. Aber es war die richtige Entscheidung. Ein russischer Koch zu sein, ist ja kein Schimpfwort. Wir müssen da jetzt durch, ich hoffe einfach, dass wir daraus stark herauskommen. Wir nutzen die Zeit jetzt, um mit Essen Brücken zu bauen. Wir haben als russisches Restaurant einen Michelin-Stern erhalten, das ist eine Brücke.

Was macht Ihre Küche so besonders?

Im Prinzip zeichnet sich meine Küche dadurch aus, dass wir den ganzen Ostblock abbilden. Ich bin in Kasachstan aufgewachsen, für die Küche dort habe ich ein riesengroßes Herz. Als ich in der Kochshow "Kitchen Impossible" gegen Tim Mälzer angetreten bin, war es mir wichtig, dass er ein kasachisches Gericht kochen muss. Es ist schwierig, die russische Küche zu definieren, weil sie von all ihren Nachbarn beeinflusst wird und genau das ist ja das Schöne daran. Wir sind Brüder. Gegen Brüder führt man keinen Krieg.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich will einfach nur Frieden.

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