#nichtegal - Flüchtlinge Helfen kann jeder

  • von Birgit Haas
Wir haben gefragt, was Ihnen nicht egal ist. Leser Rüdiger Harrer hat sich empört, wie schlecht wir Flüchtlinge behandeln. stern.de sprach darüber mit Migrationsforscher Steffen Angenendt.

In den Wochen vor der Wahl hieß es ständig, Deutschland gehe es gut, es müsse nur so weitergehen. Das Gerede über die Wohlfühl-Republik hatte uns in der stern-Redaktion wütend gemacht. So entstand die Aktion "Es ist uns nicht egal". Nachdem stern-Mitarbeiter und zahlreiche Prominente aufgeschrieben haben, was ihnen nicht egal ist, meldeten sich hunderte Leser bei uns. Auf ihre Zuschriften geben wir nun Antworten auf stern.de.

stern.de hat darüber mit dem renommierten Migrationsforscher und Politikberater Steffen Angenendt von der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) gesprochen.

Herr Angenendt, werden Flüchtlinge in Deutschland schlecht behandelt?
Deutschland hat vergleichsweise gute Standards für den Umgang mit Flüchtlingen. Trotzdem gibt es Probleme, etwa die Dauer der Asylverfahren - die ist zu lang. Problematisch ist auch die Residenzpflicht, die Menschen an einen Ort bindet. Auch die Unterbringung von Asylbewerbern ist nicht optimal, sie isolieren die Menschen oft von der Bevölkerung.

Verzögert das die Integration?


Wie schnell sich jemand einlebt, hängt natürlich auch vom Einzelnen ab. Aber wir könnten mehr tun: Unterbringung in Wohnungen, rasche Anerkennung beruflicher Abschlüsse und Sprachkurse. Die Erfahrung zeigt, dass die meisten Menschen bleiben. Durch die Ungewissheit gehen aber schnell zwei bis vier Jahre verloren.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Migrationsforscher Steffen Angenendt

"In Deutschland fehlt bürgerschaftliches Engagement."

Wollen die Deutschen überhaupt Einwanderung?
Es gibt eine erstaunliche Diskrepanz: Laut Umfragen denken viele Deutsche, wir hätten zu viele Asylbewerber. Sind sie mit dem Schicksal eines Asylbewerbers konfrontiert, sieht es anders aus. Es regt die Leute auf, wenn eine Familie zurückgeschickt wird, obwohl sie sich gut eingelebt hat.

Aufregen - macht uns das schon zu toleranten Bürgern?


Nein, in Deutschland fehlt bürgerschaftliches Engagement. Menschen, die Patenschaften übernehmen, sich um Kinder kümmern oder mal ein Essen organisieren. Und den Flüchtlingen so zeigen, dass sie jetzt dazugehören, egal für wie lange. In den USA gibt es sehr erfolgreiche Projekte dieser Art.

Wie wird eigentlich entschieden, wer in die Festung Europa reindarf?


Bei einem Syrer, der jetzt kommt, ist die Lage relativ klar, der muss geschützt werden. Ein Bauer, der sein Feld wegen Dürre nicht mehr bestellen kann, ist aber eigentlich ein Wirtschaftsflüchtling und die Bundesrepublik ist im Prinzip völkerrechtlich nicht verpflichtet, ihn zu schützen. Die Entscheidung, wer ein Flüchtling und wer Migrant, ist heikel.

Eine legale Einreise gibt es nicht?
Die Visavergabe von Deutschland und anderen EU-Staaten ist restriktiv. Damit haben selbst Geschäftsleute aus Entwicklungsländern oft erhebliche Probleme. Die Einreise zu Arbeitszwecken ist besonders kompliziert. Das hat sich in jüngster Zeit verbessert, aber leicht fällt es eigentlich nur Hochqualifizierten, nach Deutschland zu kommen.

Warum ist Deutschland nicht großzügiger?


Es gibt Politiker, die darauf hinweisen, dass wir 1992, als besonders viele Flüchtlinge kamen, insgesamt 438.000 Asylbewerber aufgenommen haben. Und dass Deutschland damals vergebens um Hilfe gebeten hat. Entsprechend niedrig ist die Bereitschaft der Politik heute. Momentan ist Deutschland fein raus. Da wir keine europäischen Außengrenzen haben und Flüchtlinge dort Asyl beantragen müssen, wo sie europäischen Boden betreten, müssen sie ihre Asylverfahren dort machen.

Ist die Verteilung in Europa heute gerechter?


Nein. Wir brauchen endlich eine europäische Aufnahmeregelung, die Wirtschaftskraft, Bevölkerungsdichte und Arbeitsmarktsituation des jeweiligen Landes in Rechnung stellen und faire Aufnahmequoten für die einzelnen Länder festlegt.

Viele Politiker sagen, dass wir die Probleme der Menschen in deren Heimat lösen sollten. Ginge das?


Es ist ein Irrglaube, dass Entwicklungshilfe Migration verhindert. Ganz im Gegenteil. Mehr Wohlstand und bessere Bildung versetzen Menschen überhaupt erst in die Lage, ihre Auswanderung zu finanzieren. Trotzdem sollten wir die Entwicklungshilfe verstärken. Es ist ein Unterschied, ob Leute freiwillig ihr Land verlassen oder dazu gezwungen sind. Im Gegensatz zur Flucht hilft die freiwillige Migration den Heimatländern, ist sogar besser als Entwicklungshilfe. Global gesehen überweisen Migranten dreimal mehr Geld in ihre Heimatländer, als über öffentliche Entwicklungshilfe dorthin fließt. Und mit zunehmendem Wohlstand der Herkunftsländer kehren die Leute zurück, wie wir an den Familien der früheren Gastarbeiter aus Italien und Türkei feststellen.

Haben wir eine historische Verantwortung gegenüber den Flüchtlingen?


Wir müssen uns klarmachen, dass Deutschland seit vielen Jahrzehnten ein Einwanderungsland ist - zur Weimarer Republik, in der Nachkriegszeit und später. Diese Zuwanderung macht Deutschland aus. Und das hat auch positive Seiten - viele Abkömmlinge aus Gastarbeiterfamilien sind heute Teil der Mittelschicht. Darauf können wir auch stolz sein.

Was glauben Sie, wird beim EU-Gipfel herauskommen?


Meine Erwartungen sind gedämpft. Es wird um eine verstärkte Grenzsicherung gehen, aber auch um Hilfe für Flüchtlinge in Seenot. Aber sicherlich versucht die EU auch, die Anrainerstaaten in Nordafrika dazu zu bewegen, dass dort keine Flüchtlingsboote mehr ablegen können. Was wahrscheinlich weiterhin fehlen wird, sind Programme für legale Arbeitsmigration.

Birgit Haas