"Sagen, was ist", dieser Leitspruch von "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein ist eigentlich für jeden Mitarbeiter des Nachrichtenmagazins beim Betreten des Verlagshauses zu sehen. Auch für Markus Feldenkirchen. Und doch hat er diese Maxime, zumindest für einige Zeilen, ausnahmsweise gebrochen.
Feldenkirchen, 43, ist Journalist und Autor des "Spiegel". Für seine Reportage "Die Martin-Schulz-Story" wurde er mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet, seit 2004 ist er in wechselnden Funktionen bei dem Nachrichtenmagazin tätig. Alle drei Wochen erscheint seine Kolumne im Blatt.
Darin schreibt Feldenkirchen über allerhand Themen, die den gesunden Menschenverstand - so der Titel - tangieren und strapazieren: Vom mangelnden Fingerspitzengefühl des DFB-Präsidenten im Umgang mit Mesut Özil, über die asoziale Seite von Airbnb oder der AfD als "Ballermannversion des deutschen Konservativismus". Für die vergangene Ausgabe (Nr. 42/2018) hat Feldenkirchen eine Kolumne zum Thema "Erschütterndes über die AfD" verfasst. Ein kommentierendes Meinungsstück, das nach Veröffentlichung eine zum Teil "furchtbare" Dynamik entwickelt hat, wie Feldenkirchen im Gespräch mit den stern sagt.
Eigentlich zu absurd, um wahr zu sein
Die Bundestagsabgeordneten der AfD würden sich auf Kosten der Steuerzahler Champagnerparties, sündhaft teure Montblanc-Füllfederhalter und Fahrten ins Bordell leisten. Das habe jüngst die "Bundesinformationsstelle" mitgeteilt, schreibt Feldenkirchen in seiner Kolumne. Das ist natürlich Unsinn. "Keine dieser Informationen stimmt. Hoffe ich zumindest. Ich habe sie mir ausgedacht", erklärt er wenige Zeilen später.
Die Botschaft: "Sie haben somit denselben Wahrheitsgehalt wie jene 'Nachrichten', die AfD-Mitglieder und ihre Sympathisanten gern in den sozialen Netzwerken teilen, um Ressentiments zu schüren." Das Problem: Ausgerechnet Feldenkirchens inszenierten Falschmeldungen werden nun aus dem Zusammenhang gerissen und munter in den sozialen Netzwerken geteilt. Die Erkenntnis: "Egal wie oft solche Meldungen später widerlegt werden: Irgendetwas bleibt wohl immer hängen", wie Feldenkirchen schon in seinem Text schreibt.
Twitter-Nutzer sind empört über eine Montblanc-Posse der AfD, die es so nicht gegeben hat
Denn von seinem Text sind es ausgerechnet jene knapp 600 Zeichen (von über 2300 insgesamt) über die vermeintliche Montblanc-Posse der AfD, die nun hängen bleiben könnten. So verbreitete ein Twitter-Nutzer, der seinem Profil zufolge dem linken Spektrum zuzuordnen sein könnte, lediglich die bewusst ausgedachten Ausführungen über die Rechtspartei. Ohne Hinweis, dass die Zeilen aus dem Kontext gerissen sind. Mit, Stand jetzt: 396 Retweets und 755 "Gefällt mir"-Angaben. Auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) hat den Tweet zunächst auf seinem Account geteilt und die aus dem Zusammenhang gerissene Passage verbreitet.
Geplant sei diese Entwicklung nicht gewesen. "Der Text sollte kein Experiment sein", sagt Feldenkirchen dem stern, "sondern die gefährliche Wirkungsweise von Falschinformationen veranschaulichen." Beim Scrollen durch seine Timeline sei ihm des Öfteren aufgefallen, dass "irgendwelche Sachen geteilt werden, die so nicht stimmen - aber trotzdem verbreitet werden, weil sie ins eigene Weltbild passen."
Oder, weil "Erschütterndes über die AfD" im kollektiven Gedächtnis wahr werden soll? Die Netz-Reaktionen zu den inszenierten Falschinformationen fallen zahlreich aus, teilweise empört. Ein Nutzer beschwert sich, dass die AfD-Abgeordneten "haufenweise Montblanc-Füller beim Staat abgreifen". "Wird wohl Zeit, das da mal alle Posten auf den Prüfstand kommen", wird in einem anderen Tweet gefordert. Wohl gemerkt: Zu einer Posse, die es so nicht gegeben hat - für jeden zu erkennen, der die Kolumne liest. Aber es gibt auch Reaktionen, die Feldenkirchens These von gefühlten Wahrheiten stützen: "Ich muss zugeben, bis zu den 'braunen Kassen' hab ich die ersten Absätze fast für wahr gehalten. Fake News funktionieren", kommentiert ein anderer Twitter-Nutzer.
"Das ist absolut bedenklich"
"Das finde ich furchtbar, natürlich", so Feldenkirchen zu den Vorgängen im Netz, auf die er von AfD-Politikern bisher noch nicht angesprochen worden sei. Er kritisiert den "missbräuchlichen" Umgang mit "einer bewusst aus dem Kontext gerissenen Passage des Textes" und die "oberflächliche Kommunikationskultur", die er in seiner Kolumne anprangert und zur ausschließlichen Verbreitung der inszenierten Passage geführt haben könnten. "Das ist absolut bedenklich", findet Feldenkirchen.
"Sagen, was ist", das ist ein großer Anspruch. Nicht zuletzt deswegen beschäftige man 70 Kollegen in der "Spiegel"-Dokumentation, sozusagen eine Abteilung für den Fakten-Check. "Deren Aufgabe ist es normalerweise, alles aus Texten zu streichen, was falsch ist", schreibt Feldenkirchen in seiner Kolumne, deren ersten beiden Absätze daher "unter strenger Beobachtung" stünden. "Selbst dann, wenn das Gestrichene in ihr Weltbild passen würde."
Die Kollegen werden dafür "sehr geschätzt", sagt er. "Sie sind eine wertvolle Kontrollinstanz und verhindern, dass wir falsche Informationen in die Welt setzen." Dafür haben leider andere gesorgt.
Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Version dieses Textes wurden zwei Netzreaktionen, vermutlich im falschen Zusammenhang, genannt. Wir haben die Tweets entfernt und bitten den Fehler zu entschuldigen.
