Schon dem Dichter Äsop ist das Jammern seiner Mitmenschen offenbar schwer auf die Nerven gegangen. In seiner Fabel "Der Ochsentreiber und Herkules" schrieb er über einen Ochsentreiber, der mit seinem Karren im Dreck stecken bleibt und die Götter um Hilfe anfleht.
Daraufhin antwortet ihm Herkules: "Lege die Hände an die Räder und treibe mit der Peitsche dein Gespann an, zu den Göttern flehe jedoch erst dann, wenn du selbst etwas getan hast; sonst wirst du sie vergeblich anrufen." Äsop lebte im 6. Jahrhundert vor Christus.
An Äsops Fabel muss ich in diesen Tagen viel denken. Auf gewisse Weise steckt unser Land gerade im Dreck. Die Ampel zeigt in einem peinlichen Mein-Gipfel-ist-wichtiger-als-deiner-Wettbewerb, dass ihr knapp ein Jahr vor der Bundestagswahl an gemeinsamem Regieren nicht mehr gelegen ist. Die Wirtschaft erlebt das zweite Rezessionsjahr in Folge. Vielen Menschen macht die illegale Migration Angst, zugleich bekommen immer mehr Betriebe den Fachkräftemangel zu spüren. Die Stimmung in der Bevölkerung ist im Keller.
Wehklagen als Volkssport
In dieser Situation ist es zum Volkssport geworden, sich gegenseitig für die Misere verantwortlich zu machen. Die Wirtschaft erklärt den Staat und seine Bürokratie für ihre schlechte Performance als ursächlich. Dass viele Branchen wie die Automobilindustrie entscheidende Innovationen verpasst haben und deshalb im internationalen Wettbewerb zurückgefallen sind, wird gern übersehen.
Die Regierung erklärt den Bürgern, dass sie selbst einen super Job macht und diese nur zu doof sind, das zu kapieren. Die Bürger wiederum machen inzwischen für jeden Pups, der ihnen quer sitzt, die Regierung verantwortlich. "Und schuld daran ist nur die SPD", sang der Entertainer Rudi Carrell schon 1975. Damals übrigens am schlechten Sommer. Viele Jahre später wurde dann die CDU-geführte Regierung für alles und jedes in Haftung genommen. Danke, Merkel! Jetzt sind es vor allem die Grünen.
Ehe in der Krise? Olaf ist schuld!
Ist demnächst Olaf Scholz und die Ampel auch schuld daran, wenn es in meiner Ehe schlecht läuft? Wenn mein Kind eine Sechs nach Hause bringt?
Bitte nicht falsch verstehen: Natürlich läuft vieles nicht gut, und natürlich ist die Regierung für die Gestaltung der Politik zuständig. Dies ist kein Plädoyer, sie aus dieser Verantwortung zu entlassen.

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Es ist gar nicht alles schlecht
Aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir auch feststellen: Es ist gar nicht alles so schlecht. In Deutschland herrscht Rekordbeschäftigung, die Arbeitslosenquote liegt bei 6 Prozent. 2005 war sie mit 11,7 Prozent fast doppelt so hoch. 2015 wurde ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto pro Stunde eingeführt. Inzwischen beträgt er 12,41 Euro. Der Abstand zwischen Gering- und Besserverdienenden hat sich verringert. Die Gesundheitsversorgung mag nicht perfekt sein, aber im Gegensatz zu vielen anderen – auch hoch entwickelten – Ländern wird hier jeder behandelt, wenn er einen Arzt braucht. Die Schulbildung ist weiterhin kostenlos.
Warum wird trotzdem so viel geklagt? Weil wir verlernt haben, dass wir selbst einen Anteil daran haben, ob es uns gut geht oder nicht. Wo sind denn die großen Initiativen der Unternehmen, mit denen Deutschland international wettbewerbsfähig bleibt? Und warum sprechen wir nicht viel mehr über die vielen mutigen zivilgesellschaftlichen Initiativen, bei denen Menschen versuchen, ihre Stadt, ihr direktes Umfeld besser zu machen?
Der Geist der Trümmerfrauen
Was wäre eigentlich aus Deutschland geworden, wenn die Trümmergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg alle anderen verantwortlich gemacht hätte, statt selbst in die Hände zu spucken und das Land wieder aufzubauen? Dabei hätte man sich damals auch als Opfer der Verhältnisse fühlen können – erst der Nazis, die Land und Menschen in den Abgrund getrieben hatten, dann der Alliierten, die für den Wiederaufbau ein strenges Regelwerk vorsahen.
Doch statt der damaligen Anpack-Mentalität macht sich heute wieder German Angst breit. Oder vielmehr: German Meckerei. Was würde wohl passieren, wenn in Deutschland ein frisch gewählter Regierungschef in seiner ersten Rede rufen würde: "Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt euch, was ihr für euer Land tun könnt"? Ich wette, nicht Wenige wären schwer empört ob dieser Anmaßung.
Wir sollten mehr Äsop wagen
John F. Kennedy hat genau das in seiner Antrittsrede als US-Präsident am 20. Januar 1961 gesagt. Und die Amerikaner haben diese Botschaft verstanden.
Mag sein, dass eine solche Aussage heutzutage zu hohl und pathetisch wirken würde. Insbesondere nach einer Zeit der Pandemie, in der die Regierung mit harten Maßnahmen massiv in das Leben der Menschen eingriff und keinen Raum für eigenes Handeln ließ.
Doch ein bisschen Äsop sollten wir allemal wagen. Erst mal gucken, was wir selbst dazu beitragen können, um den Karren aus dem Dreck zu bekommen. Dann können wir immer noch die Götter beschimpfen.