Das außerdienstliche Rathaus von Brunsmark sieht aus wie ein Mehrfamilienhaus. Weil es eines ist. Zu diesem roten Klinkerbau gehen sie, die rund 170 Einwohner, wenn ihnen etwas auf der Seele brennt.
Iain Macnab, 70, öffnet die Tür. Ob man ihm folgen möchte? Möchte man. Eine rustikale Holztreppe führt in den ersten Stock, zum Wohnbereich, und – bitte links – ins Arbeitszimmer. An der Tür hängt ein Schild, darauf steht: Keep calm and carry on, bleib ruhig und mach weiter. Er würde gern weitermachen, aber mit den Briten muss auch Macnab gehen.
"Von 100 auf 0, genau um Mitternacht", rechnet Macnab vor. Er setzt sich hinter seinen Schreibtisch, schlägt die Beine übereinander, lächelt ein mildes Lächeln. "Dann habe ich absolut nichts mehr zu sagen." Denn in Sachen Brexit ist das letzte Wort schon gesprochen.
"Ich wusste, dass dieser Tag kommen wird"
Genau um Mitternacht, als Großbritannien die Europäische Union verlassen hat, musste Macnab seinen Posten als Bürgermeister der Gemeinde räumen. Die EU-Gesetzgebung erlaubt die Übernahme politischer Ämter auf kommunaler Ebene nur für diejenigen, die den Pass eines Mitgliedsstaats haben. Macnab hat bis heute nur die schottische Staatsbürgerschaft. Weil er sagt: "Ich bin seit 70 Jahren Schotte. Es würde sich merkwürdig für mich anfühlen, wenn ich nur noch zur Hälfte oder gar nicht mehr Schotte wäre." Er befürchtete aber auch Komplikationen mit dem Rentensystem und der Krankenkasse. Dem stern hat er in seinen letzten Stunden als Bürgermeister einen Einblick gewährt: in sein Leben, in seine Gefühle, in seine deutsche Heimat.
Es ist Freitagmittag, bald schlägt's Brexit. Die Frage drängt sich auf: Was fühlen Sie an Ihrem letzten Arbeitstag, angesichts dieser ausweglosen Situation – Wut, Verzweiflung oder beides? "Wehmut.", sagt Macnab. "Natürlich werde ich das Amt vermissen. Aber ich wusste, dass dieser Tag kommen wird." Kaffee?
Ian Macnab
wurde in der schottischen Stadt Dundee geboren. 1975 kam der gelernte Journalist nach Hamburg. Er arbeitete zunächst als Tontechniker, wechselte in den folgenden Jahren mehrmals die Branche und machte sich schließlich mit einer IT-Firma selbstständig. Seit 1992 lebt er mit seiner deutschen Ehefrau und zwei Kindern in Brunsmark. Seit 2003 sitzt er in der Gemeindevertretung. 2008 wurde der Schotte erstmals zum Bürgermeister gewählt, 2018 zum zweiten Mal für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt.
Auch für ihn war der Brexit, dieses jahrelange Hin und Her, ein Abschied auf Raten. "Die meisten in Brunsmark dachten, es bleibt alles, wie es ist. Dass ich nicht abdanken müsste, der Brexit doch noch abgeblasen wird", erzählt er. "Aber mit der Wahl von Boris Johnson zum Premierminister dämmerte es mir, dass es wohl doch passieren würde."
Macnab gehört zum Inventar der Gemeinde, zu der kleinen Idylle, die etwa 60 Kilometer östlich von Hamburg liegt. Wo es noch unbebaute Grünflächen gibt, keine Betonhochhäuser und es so ruhig ist, als würde man Noise-Cancelling-Kopfhörer tragen. "WARTEN SIE, AUFSTEHEN!", ruft er euphorisiert und springt vom Stuhl auf. Vom Fenster aus sind ein paar Rehe zu sehen. "So sind wir hier", sagt Macnab und grinst.
Macnab und Johnson werden im gleichen Jahr Bürgermeister
Seit 1992 lebt er in Brunsmark, 2008 wird er erstmals zum Bürgermeister gewählt – ausgerechnet in jenem Jahr, in dem auch Johnson im fernen London zum Stadtoberhaupt ernannt wird. No coincidence, kein Zufall, sagt er und lacht auf. Er ist stolz auf seine "schöne Gemeinde", was man erreicht habe – vom neuen Gemeindehaus über das schnelle Glasfasernetz bis zu der LED-Beleuchtung an den Straßen. Dafür sei er damals, so 2003 müsste das gewesen sein, in die Politik gegangen: "Ich wollte etwas verbessern."

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Sorry, das Telefon klingelt. Ein Journalist von der "New York Times" ist dran. That's rrright, bestätigt Macnab und rollt das "r" so schön schottisch, er scheide wirklich wegen des Brexits aus dem Amt aus. Seit 6.50 Uhr gibt er Interviews für Radio-, Fernsehsender und Zeitungen aus aller Welt. "Aber nur bis 18 Uhr", sagt Macnab und nippt am Kaffee, "dann wird geprobt. Ich spiele in einer Band." Und die Schlüssel zum eigentlichen Rathaus, der Amtsverwaltung Amt Lauenburgische Seen, müsse er auch noch abgeben.

Er könnte es an seinem letzten Tag ruhig angehen lassen, so, wie es ihm das Schild an der Tür zum Arbeitszimmer empfiehlt. Aber es ist ihm ein Anliegen, möglichst viele Presseanfragen zu beantworten. Nicht nur, weil er in den 70er-Jahren selbst als Journalist in Schottland gearbeitet hat. "Es gibt so viele Politiker, die nicht sagen, was los ist", findet Macnab.
Wer Macnab sieht, winkt. Und umgekehrt.
So überrascht auch die Meinung des schottisch-deutschen Bürgermeisters zum Brexit kaum. Das folgenreiche Referendum von 2016 war für ihn ein "großer Fehler", die Menschen in Großbritannien "waren völlig falsch informiert." Damals abstimmen durfte er übrigens nicht, da er bereits länger als fünfzehn Jahre im Ausland lebte.
Und Schottland? Sollte es sich von Großbritannien emanzipieren und der EU beitreten? Macnab steht auf, spaziert durch sein Büro. Ein Unvereinigtes Königreich würde ihn zwar sehr traurig stimmen, sagt er, aber ginge das "nationalistische Affentheater" in der britischen Politik weiter, gebe es wohl keine Alternative. "Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde – gegen meine tiefste Überzeugung. Aber irgendetwas sagt mir, dass es so kommen wird." Ein bedingungsloser Fan der Staatengemeinschaft ist er aber auch nicht. "Ich glaube, dass die EU nach dem Brexit in eine Findungsphase kommen wird und schlanker, schlagfertiger und wacher wird – das ist jedenfalls meine Hoffnung." Dann gehöre Schottland da rein. So oder so: "Ich bin Europäer. Mit oder ohne Brexit."

Bekannt wie ein bunter Hund ist er auch. Er fährt mit seinem schwarzen Peugeot 3008 ("groß, aber sparsam!") durch Brunsmark. Die Straßen sind leer, kleine Häuser reihen sich aneinander, die Bäume geben ihre Äste preis. Wer Macnab sieht, winkt, und umgekehrt. Er hält an, lässt das Autofenster herunter. "Naaa, geht's gut?", fragt ein Brunsmarker. "Mein Lieber, letzter Tag!" Macnab kommt ins Plaudern. Na gut, man sehe sich ja spätestens am 14. März, beim Stammtisch. Seine Band ("The Lucky Devils") werde auch spielen. Weiter geht's: vorbei an der alten Försterei, dem Pferdezüchter, dem Gemeindehaus ... Gibt es in Brunsmark überhaupt etwas, dass Macnab nicht kennt? "Bestimmt, aber nicht viel."
Es wird spät. Wie er heute Abend schlafen werde, die Uhr im Blick? "Ich hatte vor allem gestern ein mulmiges Gefühl, als ich ins Bett gegangen bin", sagt Macnab, "da hatte ich meine letzte Ausschusssitzung. Und mir ist klar geworden: Ach Du Scheiße, das ist wirklich deine letzte." Zumindest als Bürgermeister. Denn vielleicht werde er als bürgerliches Mitglied in einigen Ausschüssen mit anpacken, wenn das gewünscht werde. "Wenn ich helfen kann, mache ich das gern." In Brunsmark wolle er wohnen bleiben, sagt Macnab, der eine Aufenthaltserlaubnis von der Ausländerbehörde bekommen hat.

Seine Aufgabe sieht er in guten Händen, sein Stellvertreter übernimmt. Am Mittag sei er noch einmal im Amt gewesen, habe sich von allen verabschiedet, sich bedankt, die letzte Post verschickt. Zum Abschied haben ihm die Mitarbeiter des Amtes Lauenburgische Seen eine große Schottlandfahne geschenkt. Die alte Flagge vor seinem Haus sei auch schon ziemlich abgerockt, da komme die neue sehr gelegen. In Zukunft wolle er sich wieder mehr seiner Familie widmen. Außerdem habe er ja auch noch sein Internetunternehmen, das er weiterführen wolle.
Seine letzte Amtshandlung für heute, sozusagen, wird aber die Bandprobe am Abend sein. Und vielleicht ja ein Glas schottischer Whisky mit den anderen "Lucky Devils".