DEBATTE Therapieren oder Wegsperren?

Für Täter, die sich an Kindern vergangen haben, fordert Bundeskanzler Gerhard Schröder eine rigorose Bestrafung: »Wegschließen - und zwar für immer!« Psychiater, Strafrechtler und Polizisten halten dagegen: Nicht nur mit harten Urteilen, sondern vor allem mit qualifizierten Therapien können unsere Kinder wirksam geschützt werden. Aus stern Nr. 30/2001.

Der Kanzler spürte die Massen mal wieder hinter sich. Zielsicher formulierte Gerhard Schröder in der »Bild am Sonntag«, er komme »mehr und mehr« zu der Auffassung, dass Kinderschänder »nicht therapierbar« seien. Des Kanzlers Lösung: »Wegschließen - und zwar für immer!«

Volltreffer. In der Woche, in der die ermordete Julia im hessischen Biebertal beerdigt wurde, beklagten drei von vier Deutschen den angeblich zu laschen Umgang mit Sexualstraftätern. Wie immer, wenn kleine Mädchen entführt, vergewaltigt und getötet werden, schlägt die Stunde der Populisten.

Die Berichterstattung in den Medien vermittelt den Eindruck, als würden beinahe täglich Kinder entführt und umgebracht. Tatsächlich gab es 1999 und 2000 jeweils zwei Fälle - grauenvoll genug. Doch die Täter müssen bereits mit Höchststrafen rechnen:

- Lebenslange Haft für Armin Schreiner, der 1996 die kleine Natalie vergewaltigte und das bewusstlose Mädchen in den Lech geworfen hatte. Natalie ertrank.

- Lebenslange Haft für Ronnie Rieken, der die 13-jährige Ulrike und die elfjährige Christina brutal ermordet hatte.

- Lebenslange Haft für Rolf Diesterweg, der im Januar 1997 die zehnjährige Kim misshandelt und getötet hatte.

Hamburgs Topfahnder Reinhard Chedor sagt: »Emotional betrachtet, bin ich mit dem Kanzler-Wort einverstanden. Denn er zeigt Mitgefühl für die Opfer. Wie das aber in unser Rechtssystem passen soll, ist mir nicht klar.«

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Bei vielen Experten provozieren Schröders Sprüche fassungsloses Kopfschütteln. Der Vorsitzende des Deutschen Richterbunds, Geert Mackenroth, erinnert an den Grundsatz der Menschenwürde und lehnt pauschale Änderungen ab: »Das geht so schlicht nicht.« Christian Pfeiffer (SPD), niedersächsischer Justizminister, verweist auf die bestehenden Gesetze: »Die reichen aus.« Der Mainzer Psychologie-Professor und renommierte Gutachter Johann Glatzel sagt: »Als ehemaliger Strafverteidiger müsste der Kanzler wissen, was im Gesetz steht. Unverständlich, warum er jetzt in die Rolle des Laien wechselt.«

Es waren immerhin die Sozialdemokraten, die in den frühen siebziger Jahren die große Strafrechtsreform durchsetzten. Das mittelalterliche Zuchthaus, das allein dem Wegsperren diente, wurde ersetzt durch einen Strafvollzug, der von Beginn an nur ein Ziel hat: die Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft. Im »Lebach«-Urteil verankerte das Bundesverfassungsgericht 1973 den Grundsatz: »Der Sozialstaat verlangt, dass im Vollzug dem Gefangenen persönliche Hilfe zur Ermöglichung eigener Selbsthilfe geleistet und soziale Betreuung und Fürsorge gewährt werden.« So viel Aufwand, um wegzuschließen - »und zwar für immer«?

Bislang müssen sich die Gerichte bei der Verurteilung von Sexualstraftätern entscheiden - zwischen Gefängnis und Maßregelvollzug. Eine Gefängnisstrafe erhält, wer für voll schuldfähig angesehen wird. Für den sexuellen Missbrauch von Kindern sieht das Gesetz Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren vor. Auf Sexualmord steht lebenslänglich. Wiederholungstäter mit Sexualdelikten müssen bereits jetzt mit Sicherungsverwahrung rechnen: Sie müssen nach Absitzen ihrer Strafe noch bis zu zehn Jahre länger im Gefängnis bleiben. Schwerstkriminelle haben eine unbegrenzte Verwahrung zu gewärtigen.

In den Maßregelvollzug schickt das Gericht Täter, die es für vermindert schuldfähig oder schuldunfähig hält. Nur hier werden aus Tätern Patienten, die von Fachpersonal unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen therapiert werden sollen. Erst wenn alle Beteiligten einig sind, gibt es Lockerungen. Und bis jemand rauskommt, vergehen in der Regel viele Jahre.

Therapie gilt allgemein als der beste Opferschutz - wenn auch ohne Garantie. Sadistischen Mördern wie Jürgen Bartsch, der in den sechziger Jahren Kinder entführte, um sie vorsätzlich zu töten, ist nur schwer zu helfen. Auch gibt es keine hundertprozentigen Prognosen über die Entwicklung solcher Täter. »Probleme sind erkennbar, die durchaus aus anderen

Bereichen wie Medizin, Luftfahrt, ja sogar der Wettervorhersage bekannt sind», heißt es in der Anleitung zum «HCR 20», einer von kanadischen Wissenschaftlern entwickelten Prognose-Checkliste, die auch hierzulande immer mehr Anwendung findet.

»Es ist unmöglich, von irgendeinem Menschen ohne jede Einschränkung zu sagen, dass keine ,Gefahr? mehr bestehe, dass dessen ,Gefährlichkeit? fortbestehe«, schreibt der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung in einer Stellungnahme zum »Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten«, das zahlreiche Verschärfungen des Strafrechts festschreibt. Pädophilie etwa halten Fachleute für unheilbar. Mit Hilfe einer Verhaltenstherapie kann der Patient jedoch lernen, damit umzugehen - also gezielt Hilfe zu suchen, wenn er das Gefühl bekommt, die Kontrolle zu verlieren.

Ohne Hilfe bleibt jeder, der hinter Schloss und Riegel landet, sich selbst überlassen. »Ich weiß ganz genau, wenn Leute wie ich nicht behandelt werden, entlässt man lebende Zeitbomben«, sagt Thomas M., der Ende der achtziger Jahre zu langjähriger Haft verurteilt wurde. Er musste sich eine Therapie per Gerichtsbeschluss erkämpfen - denn wer ins Gefängnis muss, bekommt nur selten qualifizierten Beistand. Alle vier Wochen ein einstündiges Gespräch mit dem Gefängnispsychiater ist die Regel. Guntram Knecht, Leiter des Maßregelvollzugs im Hamburger Klinikum Nord Ochsenzoll, spricht von einer »psychiatrischen Schmalspurbehandlung« für Insassen im Strafvollzug. Der Rechtsausschuss des Bundestages kam nach einer Anhörung zu dem Schluss: »Die Situation ist unbefriedigend.«

Dennoch werden 97 Prozent der in Deutschland verurteilten Sexualverbrecher im Strafvollzug weggesperrt, wo sie keine angemessene Therapie erfahren. Der Fehler liegt im System. Denn im frühen Stadium des Prozesses müssen Richter, Staatsanwalt oder Verteidiger - allesamt psychiatrische Laien - entscheiden, ob eine Einschränkung der Schuldfähigkeit vorliegen könnte und der Beschuldigte daher begutachtet werden muss. Vom Urteil des Experten hängt dann wiederum ab, wohin der Delinquent gesperrt wird: in die Maßregel oder in den Strafvollzug, zur Behandlung oder zum Absitzen.

Diese Kopplung von Schuldfähigkeit und Therapiemöglichkeit hält Norbert Leygraf, bundesweit anerkannter Gutachter und Professor für Forensische Psychiatrie, für »höchst problematisch«. Denn auch den Verurteilten im Strafvollzug sollte eine Therapie zumindest angeboten werden. Ansonsten drohen die Einmaltäter zu Wiederholungstätern zu werden.

Längst nicht jeder Sexualtäter ist behandlungsfähig. Voraussetzung für den Erfolg einer Therapie sind ein Mindestmaß an Intelligenz und vor allem der Wille zur Therapie. »Da fallen rund zehn Prozent aus«, sagt Ochsenzoll-Direktor Knecht. Professor Klaus M. Beier, einer der führenden deutschen Sexualwissenschaftler, wird deutlicher: »Für therapieunfähige und -unwillige Täter bleibt nur die Möglichkeit der Sicherung.«

Die Experten sind sich einig, dass Therapien mehr bringen als das von Schröder geforderte lebenslange Wegsperren. Andreas Hoyer, Strafrechtsprofessor an der Universität Regensburg, sagt: »Mit erhöhter Strafandrohung lassen sich vielleicht die Täter in Verkehrs- oder Vermögensdelikten abschrecken, aber doch keine Sexualstraftäter. Bei denen stehen irrationalere Überlegungen im Vordergrund.«

Sinnvoller als populistische Forderungen wäre eine Begutachtung der Praxis im deutschen Maßregelvollzug. »Die Forensische Psychiatrie ist leider die letzte Ecke der Psychiatrie, mit der keiner etwas zu tun haben möchte«, sagt Hans-Joachim Schwarz, Chefarzt des Psychiatrischen Krankenhauses im schleswig-holsteinischen Rickling. Seit Jahren leidet die Forensische Psychiatrie an chronischem Nachwuchs- und Personalmangel. Derzeit gibt es etwa 30 bis 50 qualifizierte Fachleute in Deutschland, der Bedarf wird auf das Zehnfache geschätzt. »Es gibt so gut wie keine Ausbildung für den Umgang mit Sexualstraftätern«, klagt Beier.

Erst allmählich entstehen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, so im nordrhein-westfälischen Eickelborn, wo jetzt 20 Ärzte und Psychologen in zwei Jahren die Begutachtung von Triebtätern lernen sollen, oder an der Berliner Charite, wo Beier bereits

seit 1997 entsprechende Fortbildungen anbietet: »Als Gutachter oder als Therapeut müssen Sie Fragen stellen, die einem selbst sehr schwer fallen, und wenn Sie nicht die richtigen Fragen stellen, erfahren Sie gar nichts.«

Die Behandlung von Sexualstraftätern gilt auch als unbeliebt, weil ihre Therapie nicht nur langwierig und schwierig ist, sondern zudem gesellschaftlich nicht gewollt. »Wir sollen therapieren, aber niemanden entlassen«, beschreibt Maria Bolze das Dilemma. Die Psychotherapeutin hat knapp sechs Jahre lang im Maßregelvollzug in Sachsen-Anhalt gearbeitet. Sie hat den Job gekündigt: »Im Grunde ist das doch nur l?art pour l?art.«

Die Zustände in vielen Maßregelvollzugsanstalten genügen nicht modernen Ansprüchen. So wird im »Ostseezentrum für seelische Gesundheit« in Neustadt/ Holstein jeder neue Straftäter zunächst in eine »Sackzelle« gesperrt - einen nur mit Bett oder Matratze möblierten Raum. »Ich habe Todesangst ausgestanden«, sagt ein 30-Jähriger, der später rehabilitiert wurde.

Eine 29-jährige Pflegerin aus einer norddeutschen Klinik berichtet, dass in der geschlossenen Abteilung nur eine Kinderpsychologin zur Verfügung stehe. »Von der bekommen wir nur selten die Order: ,Ich will mal den Patienten X sprechen,

holen Sie den mal!?» In der Regel bekämen die Patienten ruhig stellende Medikamente. Angesichts solcher Erfahrungen bleibt der Frau nur die zynische Frage: «Therapie? Was ist das? Kann man das essen?»

In den ostdeutschen Kliniken sieht es insgesamt noch schlimmer aus. Einmal pro Woche gibt es so etwas wie ein Gruppengespräch, aber meistens geht es nur um Fernsehzeiten oder schimmlige Duschen. Für Einzelgespräche mit einem Therapeuten ist nur eine Stunde wöchentlich vorgesehen, und die fällt meist aus. Wenn nicht, gibt es allenfalls Fragen wie: »Wann haben Sie das letzte Mal onaniert?«

Geantwortet wird von den Insassen oft so, dass sie in der Beurteilung möglichst gut abschneiden. Markus B., der 18 Monate lang Zimmernachbar von Frank Schmökel in der Landesklinik Brandenburg war, berichtet: »Man sagt, was die Ärzte hören wollen. Dass man aus seinen Fehlern gelernt hat, dass man willig ist, die Therapie durchzuziehen, um draußen ein neues Leben zu beginnen.« Der mutmaßliche Mörder und Vergewaltiger Schmökel gilt als Meister der Verstellung, der möglichst schnell möglichst weit reichende Freiheiten bekommen will. Nur versierte Experten erkennen die Lügen.

Wenn dann einmal im Jahr das Gutachten über jeden Häftling geschrieben werden muss, begnügen sich die zuständigen Vollstreckungskammern häufig mit den Expertisen der Anstaltstherapeuten - die somit ihre eigene Arbeit beurteilen. »Das

kommt immer wieder vor», sagt ein Hamburger Richter, der anderthalb Jahre in einer solchen Kammer saß. Er kam frisch aus dem Referendariat, als er über den Freigang von Frauenmördern zu entscheiden hatte. «Derart unerfahren kann man sich nur auf das Gutachten stützen.»

Wenn ein Patient aus dem Maßregelvollzug entlassen wird, steht er völlig allein da. Es gibt keine Einrichtungen für ihn, und die Krankenkassen weigern sich, eine Nachbetreuung zu bezahlen. »Das ist ein Skandal«, sagt Ochsenzoll-Chef Knecht, »das gefährdet den Therapieerfolg.«

Die Niederlande machen vor, wie man mit Sexualstraftätern umgehen kann. Sämtliche Delinquenten werden von einem Psychiater und einem Bewährungshelfer untersucht, die meisten bekommen ein Therapieangebot. Nach Beginn lässt sich das Gericht regelmäßig berichten, wie es läuft. Bricht der Klient die Therapie ab, wird er inhaftiert, bringt die Behandlung nichts, muss der Häftling in Sicherungsverwahrung.

Die Methode ist umstritten: Sie arbeitet vor allem mit der Opferperspektive, das heißt, die Täter müssen in die Opferrolle schlüpfen, werden beleidigt und gedemütigt, um zu erkennen, was andere durch sie erlitten haben. Jan Niemantsverdriet, Sprecher einer Klinik in Utrecht, sagt: »Wenn man diese Leute nur in das Gefängnis steckt und sonst nichts mit ihnen tut, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sie später wieder ähnliche Verbrechen begehen, bei fast 100 Prozent.«

Florian Gless / Mitarbeit: Gerd Elendt, Günter Handlögten, Martin Knobbe, Dieter Krause, Rainer Nübel, Holger Witzel