stern-Chefredakteur Kulturkampf, Markus Söder und ein Schnitzel mit Henry Kissinger: Gregor Peter Schmitz über den aktuellen stern

Stern Titelbild: Eine junge Frau hält sich die Hand vor den Mund
Der aktuelle stern wirft die Frage auf: Was darf ich heute noch sagen?
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Chefredakteur Gregor Peter Schmitz blickt auf eine Begegnung mit dem kürzlich verstorbenen Jahrhundertpolitiker Henry Kissinger zurück. Und er blickt in den aktuellen stern, der die Frage stellt: Was darf ich heute noch sagen?

Wer erleben wollte, am selben Tag an der Seite eines Popstars und eines Schurken durch Berlin zu spazieren, dem war ein Ausflug in die Hauptstadt mit Henry Kissinger zu empfehlen. Mir war dieses Erlebnis vor Jahren vergönnt, als Mitorganisator einer Konferenz. Meine wesentliche, streng genommen einzige Aufgabe lautete, ihn bloß nicht zu verlieren. Kissinger, der vorige Woche, 100-jährig, verstorben ist, war im Alter noch etwas kleiner geworden.

Die Aufgabe gestaltete sich aber einfach, weil die Deutschen ihn nicht aus den Augen ließen. Als wir das "Borchardt" zum Schnitzel-Essen betraten, klatschten Gäste, sie wollten für Fotos mit "Henry" posieren. Sie fragten nach seinem Lieblingsfußballklub Fürth, dessen Ergebnisse sich Kissinger vor der Erfindung des Internets jedes Wochenende telefonisch durchgeben ließ. Kurzum: Sie feierten ihn wie den Politstar, der Kissinger als Nationaler Sicherheitsberater von Präsident Richard Nixon in den 70er-Jahren gewesen war – als Reporter ihn "Washington 007" tauften, als er raunte, Macht sei das beste Potenzmittel, als Klatschreporter sogar seinen Friseur befragten ("dichtes, lockiges Haar, schwer zu schneiden").

Das Gefühl, an der Seite eines Schurken zu schreiten, folgte auf dem Fuß: Da war der Fernsehmoderator, der vor allem über Kissingers angebliche Verachtung für die Menschenrechte sprechen wollte. Da waren Aktivisten, die ihn den intelligentesten, aber auch teuflischsten Menschen nannten, schuldig an Kriegsverbrechen, an Amerikas Bomben auf Kambodscha, natürlich am Sturz Allendes in Chile.

Nur: Egal war Kissinger niemandem. Umgekehrt war auch ihm die Reaktion der Deutschen keineswegs egal. Ich hatte intelligent klingende Antworten auswendig gelernt, sollte Kissinger mir Fragen zum atomaren Gleichgewicht stellen. Doch auf die wichtigste Kissinger-Frage war ich nicht vorbereitet, sie lautete: Wie war ich? Diese Frage trieb ihn um, nach jedem Auftritt. Beantwortete man sie nicht euphorisch genug, versank Kissinger in nachdenkliches Schweigen. Er war ein großer Realist mit einer großen Schwäche: Ihm war nie gleich, was andere über ihn dachten, auch nicht als global prominenter Privatmann, der er viel länger war als Politiker.

Das Chamäleon der deutschen Politik

Dabei hat er so lange gelebt, dass er merken konnte, wie selbst der idealistischste Präsident – Barack Obama etwa – im Amt ein bisschen zum zynischen Kissinger wurde. Bis zum Schluss haben ihn alle befragt, auch der stern zum Ausweg aus dem Ukrainekrieg. Selbst der Menschenrechtsaktivist Nicholas D. Kristof hielt Kissinger in seinem Nachruf zugute, man könne von ihm lernen, auch in der vertracktesten Lage vorauszusehen, dass am Ende jedes Konflikts irgendeine Verhandlung und ein Händeschütteln stehen müssten. Diplomatie ist ein mühsames, erschöpfendes, oft dreckiges Geschäft. Kaum einer wusste das so gut wie Henry Kissinger.

Markus Söder ist das Chamäleon der deutschen Politik: Er passt seine politische Farbe der politischen Raumtemperatur an. Söder wollte Atomkraftwerke unter Rücktrittsdrohung sofort abschalten, nun fordert er indirekt den Rücktritt aller, die sie nicht gleich wieder hochfahren. Er hat mal Bäume umarmt und Grüne geherzt, jetzt sind Letztere für ihn wieder Staatsfeinde. Und er wollte die CSU cool machen, nun aber hetzt er gegen die "Woke-Kultur". Nur Idioten ändern sich nicht, sagt Söder dazu im Interview. 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Der Bayer ist aber ziemlich sicher kein politischer Idiot, er surft einfach sehr nah am Zeitgeist. Eine große Mehrheit der Menschen in Deutschland regt laut Umfragen etwa das Gendern auf. Was darf ich heute noch sagen? Unser Autor David Baum ist der Frage nachgegangen – und unsere Kolumnistin Jagoda Marinić erklärt, wie wir streiten können, ohne uns zu zerstreiten.

Erschienen in stern 50/23