Es ist schwierig, über Gelsenkirchen zu schreiben. Als Journalist macht man sich schnell schuldig. Diese Stadt lädt einen förmlich dazu ein, auf ihr herumzutrampeln: Stadt des Strukturwandels, Stadt der Leerstellen. Schwarze Löcher, fast überall, sie klaffen dort, wo einstmals Menschen wohnten, arbeiteten, einkauften und feierten: An diesen Orten ist vom Leben kaum mehr etwas übrig geblieben. Das andere Gelsenkirchen ist erahnbar, fühlbar. Grün, neu, weltgewandt. Was gerade stattfindet, ist der entscheidende Kampf um die Zukunft der ehemaligen Arbeitermetropole. Die Feinde der Stadt sind das Image, die Statistiken und die Ausgangslage. Was passiert mit einer deutschen Großstadt, die binnen 40 Jahren ein Drittel ihrer Einwohner verloren hat?
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Schalke: das berühmte Gelsenkirchen. Siebenmal war der FC deutscher Meister, in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts spielte eine Elf aus hauptberuflichen Bergleuten den wohl modernsten Fußball unter den europäischen Clubs. Auf Schalke lieben die Menschen ihren Fußballverein mit einer Leidenschaft, deren Wucht für den Außenstehenden genauso faszinierend wie unergründbar ist. In den Fenstern entlang der Straße hängen Dutzende Schalke-Fahnen - sofern die Wohnungen noch belegt sind. Wo die weißen Garngardinen fehlen, und nur noch kahle, leblose Fenster zu sehen sind, da gibt es keine Fans mehr.
Auf den 500 Metern zwischen dem Gewerbegebiet Berliner Brücke und dem Ernst-Kuzorra-Platz stehen zehn, vielleicht zwanzig Ladenlokale leer. Die meisten davon schon länger: Ein dichter, hellbrauner Staubfilm hat sich über die Scheiben gelegt, dahinter befindet sich oft genug - nichts. Wo früher ein Bekleidungsgeschäft war, liegen heute nur noch die PVC-Fliesen. Mütter verschwinden mit ihren Kindern hinter Türen, auf deren Klingelschildern die Namen nur noch mit Filzstift eingetragen werden und die Hausnummern schief auf den weißen Plastikleuchten kleben. Über allem liegt ein Lärmfilm, den man ständig im Ohr hat. PKW, LKW und Straßenbahnen fahren hier durch. Doch nur letztere halten hier wirklich regelmäßig.
Weiter südlich, in Gelsenkirchen-Ückendorf, gibt es einen alten Luftschutzbunker, der direkt an der Stadtbahntrasse liegt. Die Strichnarben des Betongusses bröseln, die Farbe blättert in handflächengroßen Fetzen von der Wand. Vor dem Bunker wuchert das Gras, mittendrin steht ein altes, rotes Auto hinter dem Zaun. Auch in Ückendorf stehen ganze Ladenzeilen leer. Auf dem Vordach eines alten, verlassenen Geschäfts wächst Gras. Der bereits entstandene Humus speichert das Regenwasser, und weil auch die Dachrinne gebrochen ist, tropft es selbst bei Sonnenwetter auf den Gehweg.
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Ohne Humor geht es nicht. "Wir sind die Ranking-Könige", sagt Manfred vom Sondern von der Stadtverwaltung in Gelsenkirchen. "Entweder stehen wir ganz oben, zum Beispiel in der Arbeitslosenstatistik, oder ganz unten." Sein Kollege Frank Lamfried sieht das ähnlich, drückt es aber etwas ernster aus: "Wir haben ein Imageproblem. Jeder sagt: Zeigen sie uns die schlechten Ecken, aber keiner will die schönen Seiten der Stadt sehen." Gelsenkirchen hat eine Arbeitslosenquote von 15,4 Prozent - und laut Bertelsmann-Studie "Wegweiser Kommune" wird die Stadt bis zum Jahr 2020 noch einmal 11,7 Prozent ihrer Einwohner verlieren. Gemessen am Bevölkerungshöchststand von 1959 leben dann nur noch knapp halb so viele Menschen in Gelsenkirchen.
Was auch stimmt: Seit 2005 wurden Tausende neue Jobs in der Stadt geschaffen. Während die Arbeitslosenquote im Bundesdurchschnitt um fünf Prozent sank, fiel sie in Gelsenkirchen um zehn Prozent. Das macht die einstige Arbeitermetropole zwar noch nicht zur neuen Tigerstadt im Ruhrgebiet. Aber es tut sich was. "Ich kann ihnen hier Wohngebiete zeigen, die sind durch den Strukturwandel richtig grün geworden. Radwege, Parks", sagt Lamfried. "Das wird aber oft nicht gesehen. Da steckt sehr viel Arbeit dahinter, wenn sie nach zehn Jahren Planung Gras aus den Steinen wachsen lassen."
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Gelsenkirchen kann überraschend sein. Im Stadtteil Scholven stehen viele kleine Reihenhäuser, und wenn man durch die Straßen fährt, öffnet sich manchmal der Blick. Im Hintergrund rauchen dann die Schornsteine von Deutschlands zweitgrößter Raffinerie, nachts leuchten die Lampen an den Rohrsystemen wie ein künstliches Sternenmeer.
Das Rathaus in Buer ist ein wilhelminischer Prachtbau mit einem 65 Meter hohen Turm und vielen kleinen Fassadendetails. Daneben beginnt ein kilometerlanger Grüngürtel: Er ist ein gutes Argument für Gelsenkirchen. Wer hier auf den Wegen entlang spaziert, kann abtauchen. Kein Lärm, kein Stress. Und das mitten in einer der größten Metropolregionen Europas, die vor einigen Jahrzehnten noch vor allem für ihre schlechte Luft bekannt war. Ein seltsamer Kontrast zu jenen verlassenen Straßenzügen, die wie innerstädtische Transitviertel wirken - weil hier niemand mehr anhalten oder gar wohnen will.
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Was man gegen die Stadtbrachen tun kann? "Wir wissen es nicht", sagt Frank Lamfried von der Stadtverwaltung. "Es sind lauter Einzelgebäude, wir haben da einfach keine patente Lösung". Anders als in Ostdeutschland ist es nicht möglich, ganze Häuserzeilen abzureißen, weil die Besitzerstruktur in Gelsenkirchen viel unübersichtlicher ist. Man müsste mit jedem einzelnen Hauseigentümer über Entschädigungen sprechen. Wenn einer nicht mitzieht - dann hängen alle.
Die Leerstellen in der Stadt sind wohl eine der größten Herausforderung für Gelsenkirchen. Der Kampf um die Zukunft beginnt hier: beim guten Gefühl. Genau das ist es auch, was vielen Besuchern fehlt, die an den Hauptverkehrsadern der Stadt immer wieder mit dem Verfall konfrontiert sind. Geisterstraßen schrecken ab.
Die Stadt Gelsenkirchen will den Leerstand mit zwei Mitteln bekämpfen. Zum einen sollen Stadtteile wie Schalke als "Stadtumbaugebiet" ausgewiesen werden. Mit Hilfe von Fördergeldern der Landesregierung, so hofft man, könnten Hausbesitzern zum Umbau ihrer Gebäude bewegt werden. Außerdem hat die Verwaltung ein Internet-Kataster aufgebaut, in dem jeder potenzielle Neubürger sehen kann, wo seine neue Wohnung genau liegt. So wächst der Druck auf Hausbesitzer in den weniger populären Gebieten, etwas für die Wohnqualität zu tun. "Es wird sich ein Markt entwickeln, bei dem Vermieter, die sich nicht anpassen wollen, Probleme bekommen", sagt Lamfried.
In den vergangenen beiden Jahren verzeichnete Gelsenkirchen ein leichtes Wanderungsplus: Es zogen mehr Leute in die Stadt als weg. Doch immer noch sterben in Gelsenkirchen weit mehr Menschen, als geboren werden. Ein Folgeproblem der Abwanderungswelle in den 70er und 80er Jahren. Ob die Stadt nach dem Strukturwandel wieder zukunftsfähig werden kann? Wahrscheinlich entscheidet sich die Frage dort, wo junge Menschen hinziehen könnten. Wo sie eine Perspektive finden. Und ein Lebensumfeld, das ein- statt auslädt.
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In Gelsenkirchen wird wieder gebaut. Ende 2008 soll es losgehen, an der Rheinischen Straße, zentrale Lage. Dort sollen künftig junge Familien leben. Nicht in riesigen Hochhäusern, sondern in modernen, luftigen Wohnungen und Stadtvillen, die modernen Standards entsprechen. "Kindergarten statt Brache", titelte die "WAZ", und es klingt fast wie ein Versprechen. Zwei Kilometer weiter westlich glotzen in Schalke immer noch die staubblinden Scheiben Richtung Straßenbahndamm, und einige Kilometer weiter südlich tropft das Wasser vom Vordachbiotop des verlassenen Geschäfts in Ückendorf. Gefühlt sind diese Orte tausende Kilometern von der Rheinischen Straße entfernt. Es geht hier nicht um Distanzen. Sondern um Epochen.