Bundespräsident Joachim Gauck hat in seiner ersten großen Rede als Staatsoberhaupt zur Gestaltung eines bürgernäheren Europas aufgerufen. "Es gibt Klärungsbedarf in Europa", sagte er am Freitag in einer Ansprache vor 200 Gästen im Schloss Bellevue. Gauck verwies darauf, dass viele Bürger gerade angesichts der Krise ein "Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit" hätten. Die Antwort darauf könne nicht einfach nur "mehr Europa" lauten, sondern müsse differenziert werden.
In der Vergangenheit habe es an "bedeutenden Wegmarken" an politischer Ausgestaltung gefehlt. So seien nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu viele osteuropäische Ländern zu schnell in die Europäische Union (EU) aufgenommen worden, sagte Gauck. Auch bei der Einführung der gemeinsamen Währung seien Fehler gemacht worden. "Der Euro selbst bekam keine durchgreifende finanzpolitische Steuerung." Erst Rettungsschirm ESM und Fiskalpakt konnten die Schieflage notdürftig korrigieren.
"Wir brauchen eine weitere innere Vereinheitlichung", mahnte Gauck. Er verwies dabei auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik sowie auf die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auch seien gemeinsame Konzepte auf ökologischer, gesellschaftspolitischer und nicht zuletzt demografischer Ebene nötig. Gauck griff auch einen Gedanken seines Amtsvorgängers Christian Wulff auf: Die in Europa lebenden Muslime seien "ein selbstverständlicher Teil unseres europäischen Miteinanders geworden".
Keine deutsche Großmachtpolitik
Der Bundespräsident sprach vor rund 200 Gästen im Schloss Bellevue, seinem Berliner Amtssitz. Die Ansprache war von hohen Erwartungen begleitet. Gauck äußert sich erstmals in seiner knapp einjährigen Amtszeit explizit zu europapolitischen Grundsatzfragen. Die Rede soll als Auftakt einer Serie verstanden werden, mit der Gauck gesellschaftliche und politische Themen anstoßen und voranbringen will. Die Veranstaltung löst die von seinem Vorgänger Roman Herzog initiierte "Berliner Rede" ab.
Die Briten forderte der Bundespräsident eindringlich auf, in der EU zu bleiben. Ihre lange parlamentarische Tradition, ihre Nüchternheit und ihr Mut würden gebraucht. Gauck versuchte erneut, Ängste in Europa vor einer deutschen Großmachtpolitik zerstreuen. "Ich versichere allen Bürgerinnen und Bürgern in den Nachbarländern: Ich sehe unter den politischen Gestaltern in Deutschland niemanden, der ein deutsches Diktat anstreben würde."
Sollten deutsche Politiker manchmal kaltherzig erschienen sein, "so war dies die Ausnahme und nicht die Regel", entschuldigte Gauck. Sollte aber aus kritischen Kommentaren Geringschätzung oder gar Verachtung gesprochen haben, "so ist dies nicht nur grob verletzend, sondern auch politisch kontraproduktiv. Es erschwert oder blockiert den selbstkritischen Diskurs, der in allen Krisenländern zumindest bei einer Minderheit schon deutliche Konturen angenommen hat."